CIII. Wo verstecken sie sich alle?

Wo waren die Leute in den Bunkern? Was war aus den Paranoiden geworden? Was war mit den Mönchen in den Klöstern passiert? Sind Mönche nicht friedfertige Wesen? Oder haben die Mönche sich gleichermaßen gegenseitig umgebracht? Was war aus den Mannschaften in den Atom-U-Booten geworden? Konnten sie nicht unbegrenzt tauchen? Es waren doch kaum dreißig Raketen aus dem Meer abgefeuert worden, da stellt sich die Frage, was mit den anderen geschehen ist. Und die vier Astronauten, die sich im Jahre 2029 auf dem Weg zum Mars befanden? Warum haben wir zu denen keinen Funkkontakt herstellen können? Unsere Antennen müssten dafür ausreichend dimensioniert sein, vor allem, wenn die Astronauten selbst versucht haben sollten, mit der Erde Kontakt aufzunehmen, was wohl zu erwarten wäre. Und das Dutzend Astronauten an Bord der Raumstation ISS, was war aus ihnen geworden? Es sollte doch möglich gewesen sein, sie alle zur Erde zurückzubringen. Ob die Astronauten es damals als schlechte Idee betrachteten, zurückgebracht zu werden? Ob sich einer geweigert hat oder weigern durfte? Die Raumstation sieht man noch am Abend, von der Sonne hell erleuchtet, ihre Bahnen um die Erde ziehen. Die Atmosphäre ist in über dreihundert Kilometern Höhe sehr dünn, dennoch erzeugt sie Reibung und die ISS wird dadurch ständig abgebremst, wodurch sie an Höhe verliert. Eines Tages wird sie auf die Erde fallen. Die Frage wird sein: Wo und wann? Diese Frage stellt sich natürlich dem hypothetischen Bewohner der ISS viel dringender als uns, aber nur, sofern es diesen Bewohner gibt.

Und wo waren die Einsiedler? Die spinnerten Segler, die immer allein durch die Ozeane törnten? Versteckten sich die Leute? Versteckten WIR uns? War ich paranoid? Nein, was erzähle ich da…! Wenn etwas klar war, dann, dass wir uns seit den wirren frühen Tagen, die wir in der Sahara verbracht hatten, nicht mehr versteckten.

Ich habe aufgehört, Musik zu hören. Ausgerechnet ich, der in seiner Jugend die Zeit nicht in Stunden gemessen hat, sondern im 45-Minuten-Takt. So lang war eine Seite einer Kassette. Innerhalb der 45-Minuten-Tranchen wusste ich zu jeder Zeit, wie weit ich innerhalb der Kassette war, ich kannte sie alle auswendig. Ich besaß über 700 Stück, mit ganzen LPs, die ich aufnahm und deren Songtitel ich sorgfältig aufschrieb. Die Alben waren gewöhnlich zu kurz, also mussten die 45 Minuten aufgefüllt werden, entweder mit Wiederholungen der besten Lieder der Platte oder mit anderen Stücken, die stilistisch oder von der Stimmung her zu der aufgenommenen LP passten. Die meisten Kassetten aber waren die logische Fortsetzung dieser Restminuten am Ende des Bandes: reine Mixtapes. So viel virtuos gemischte gute Musik! Man nahm sie aus dem Radio auf oder von den Originalplatten, man überspielte Stücke von einer Kassette auf die andere (wobei die Qualität arg litt und Begriffe wie Chromdioxid oder Eisenoxid eine große Bedeutung erlangten; und Rauschunterdrückung mit Dolby, wie lange ist das her? Man gab sich viel Mühe mit der Aussteuerung, man versuchte, die Kassetten möglichst hoch auszusteuern, aber nicht zu übersteuern!), man tauschte sie mit Freunden, man verschenkte sie sogar an die hübschen Angebeteten. Ob mein Cherubimchen sich noch erinnert…? Später, als Musik digital und komprimiert wurde, wurden keine Kassetten mehr gemixt, sondern stattdessen Playlisten erstellt. Zu dem Zeitpunkt war ich nicht mehr jung, ich weiß daher nicht, ob man diese Listen tauschen oder verschenken konnte oder ob das nur mit den dazugehörigen Liedern sozial akzeptiert war. Für mich – mit meinen Vorurteilen und meiner Geschichte und meiner Gewohnheit – hat eine selbst gemixte Kassette einen ganz anderen Stellenwert als eine Playlist, ganz zu schweigen von der beliebten Shuffle-Funktion, die eine ganz andere Benutzung erlaubt, als bei einem Walkman denkbar war. Und heute? Stille. Ruhe. Nur ab und zu summe oder pfeife ich leise alte Melodien vor mich hin.

Ich merke jedoch, dass ich nach wie vor Musik im Kopf habe, ich höre die Musik introspektiv, schweigend. Manchmal. Vielleicht höre ich mir keine Musik mehr an, weil mein Gehör nicht mehr so gut ist? Ich überlege gar nicht erst, wie ich das überprüfen könnte. Desgleichen verloren die Bücher an Interesse für mich, vielleicht, weil sie nicht mehr auf die Zukunft anwendbar erschienen, mit Ausnahme der technischen Handbücher, die für praktische Probleme brauchbar waren. Das Ästhetische verlor an Dimensionen in dem Maße, wie die Realität sich verfestigte: So also sieht „No Future“ aus. Lediglich das Nützliche zählt.

So könnte auch der endgültige Sozialismus aussehen. Alle gleich. Alle tot. Nur ich bin vorläufig besser dran. Und meine geliebte Frau. Wir sind gewissermaßen das Zentralkomitee des Politbüros. Eine Schande ist das!

Die Unterhaltung mit meiner geliebten Frau wird zunehmend impliziter. Wir stoßen fast nur einsilbige Laute aus und der Ton, der die Musik machte, als ich noch Musik hörte, drückt bei uns Wohl- oder Unbehagen aus. Es ist, als ob alles gesagt wäre. Das war natürlich nicht der Fall, wir hatten uns weiterhin viel mitzuteilen, aber wir drückten uns immer rudimentärer aus. In der Regel reichten uns Kombinationen dreier Phoneme, eines davon beinahe stumm: A H und Tan. Eine elaboriertere Ausdrucksweise war nicht nötig, so gut kannten wir uns. Wir wussten, was wir meinten. Ein gewöhnlicher Dialog verlief beispielsweise folgendermaßen:

„Ha…“

„Aha…“

„Aahhh…“

„Ah.“

„Tan.“

„Ha-a…“

„Hhh…“

„Tan. Tan.“

Manchmal, wenn die Aussicht schön war, lagen wir einander umschlungen auf dem Sofa vor den großen Panoramafenstern und schauten uns die Welt darunter an, still, die Katzen neben uns auf dem Sofa, Foc uns zu Füßen auf seinem Kissen. Die Natur, dort, wo sie noch intakt schien, und dort, wo sie die Kulturlandschaften des ausgestorbenen Menschen zurückeroberte, und die menschenleeren Städte. Die meisten ehemaligen Kulturlandschaften gestalten sich enttäuschend langweilig: Für gewöhnlich wurde eine Monokultur durch ein Monounkraut ersetzt. Sofern man von Unkraut sprechen kann, wenn es mangels Nutzern keinen Nutzen geben kann. Uns natürlich wieder einmal ausgenommen. Wir waren uns ja darin einig, dass wir keine Nutzer mehr waren, sondern post-soziale Parasiten. Die Erde suchte ein neues Gleichgewicht und an den Stellen mit monotonen Pflanzen, ob wir diese als Unkraut bezeichnen oder nicht, schien dieses vorläufige Gleichgewicht aus unserer distanzierten Perspektive eintönig zu sein. Aber der Kampf ums Dasein setzte sich fort und aus diesen eintönigen Monokulturen werden sich irgendwann neue Spezies entwickeln. Wie die wohl aussehen werden?

Wenn ich eines Tages mit dem Diktiertranskriber so einsilbig reden kann wie mit meiner geliebten Frau und das Gerät dennoch versteht, was ich meine, daraus etwas Brauchbares zu schreiben abstrahieren kann, im Idealfall sogar das, was ich eigentlich meinte, werde ich viel mehr zu Papier (oder genauer: zu Bits) bringen. Das würde interessante Fragen aufwerfen: Würde ich dann noch denken oder würde der Diktiertranskriber das für mich übernehmen? Wäre er ich, ähnlich wie der zweite Deep Doubt ein Klon des ersten wurde und diesen nahtlos ersetzte, als er zerstört wurde? Wäre unter diesen Umständen meine Seele – ach Quatsch, meine Seele! Eine Seele habe ich nicht, also allerhöchstens mein Geist – in der Maschine? Wären der Diktiertranskriber oder ich oder beide dann unsterblich, solange die Akkus regelmäßig nachgeladen werden? Hhhh…! Ahhh…! Aha…!

Tan.

Einst las ich, Essen sei der Sex des alten Mannes. Das Ästhetische reduziert sich allmählich auf die Tafel, mein Interesse erstreckt sich kaum weiter als die Bilder der Augen, die noch sendeten (etwa ein Drittel der ursprünglichen Anzahl war bis heute funktionstüchtig, zweihundert von ihnen benutzten wir mehr oder weniger regelmäßig, zwei weitere Dutzend hatten wir für bestimmte Zwecke umfunktioniert, die restlichen waren eingelagert), und das, was man unmittelbar aus dem Fenster sah. Und auf das nackte Überleben, solange die Hyperborea uns trägt. Mein Hund und die Katzen sind eine wichtige psychologische Stütze, ich glaube, ohne sie wären wir uns längst an die Gurgel gegangen, meine geliebte Frau und ich. Aber auch die Viecher werden langsam alt.

 

zurückvor