LXXVII. Axolotl-Affen

Die Lage an Bord empfand ich als angespannt, was nicht verwunderlich war. Wir waren reif für einen ausgewachsenen Lagerkoller. Welche Perspektiven boten sich uns, wo waren unsere Freunde (im Jenseits natürlich, dort ist man, wenn man stirbt, aber Beata Maloumie, Nicco Gassi und Ali stellten sich diese Frage trotzdem immer wieder laut – ich antwortete nicht mehr darauf), sollte man an Bord des Luftschiffes bleiben oder lieber am Boden weiterleben und wieder von vorn anfangen? Wem könnte man die Schuld für die momentane Situation in die Schuhe schieben? Wohl niemandem, der an Bord war, aber die anderen waren auch keine geeigneten Sündenböcke. Sündenböcke sollten schon noch am Leben sein. Sonst taugen sie nichts.

„Von vorn anfangen? Was wäre für dich ein Anfang? Waren wir uns nicht einig, dass du längst in die Wechseljahre gekommen bist? Willst du die neue Eva sein mit Nicco als neuem Adam vielleicht?“ schnauzte Ali Beata an. Ihm fehlt eindeutig eine Frau, seine Gereiztheit liegt an seinem Alter und unserer Einsamkeit. Er wirkt verunsichert und aufmüpfig.

„Ich weiß nicht, was von vorn anfangen wirklich bedeutet, aber ich weiß, dass ich hier an Bord langsam verrückt werde. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, wir tun nichts, ich sehe keine Pläne, die zu verfolgen es sich lohnt! Von vorn anfangen? Einfach etwas machen! Etwas anderes!“, brummte Beata zurück.

„Bevor ich endgültig von Bord gehe und mich auf der Erde niederlasse, würde ich schon gern wissen, was da passiert ist und wie es kommt, dass es uns erspart geblieben ist“, meinte ich einwenden zu müssen.

„Vorerst…“

„Ja, vorerst jedenfalls, aber immerhin! Weißt du von jemandem, dem es besser geht?“ Beata Nalga Maloumie äußerte sich nicht wirklich konstruktiv, aber ich wollte mich nicht von ihr reizen lassen. Die anderen, dazu zählten an diesem Nachmittag im Hauptsaal der Hyperborea neben mir noch Ali, Nicco und meine geliebte Frau, hörten uns zu und sagten erst einmal nichts. Klaus und Sven waren beschäftigt; Klaus war heute mit der Navigation dran, Sven hatte sich nach unten zurückgezogen, weil irgendwelche Schaltschränke laut vorgeschriebenem Wartungsplan untersucht werden sollten. Nach einigen Minuten unterbrach Nicco Gassi die Stille:

„Ich hätte eine Theorie…“

„Theorien hat es viele gegeben, keinem haben sie auch nur das Geringste genutzt!“ Nein, Beata Nalga war heute wirklich kein Vergnügen.

„Ich meine“, fuhr Nicco fort, ohne auf Beata zu achten, „dass irgendetwas einen Teil des menschlichen Genoms dazu gebracht hat, endlich erwachsen zu werden.“

„Hä!?!?“ fragte Ali subtil differenziert.

„Hast du schon mal was vom Axolotl gehört?“

„Nee, was’n das?“

„Der Axolotl ist ein Schwanzlurch, der… – Mensch, Ali, das ist nicht witzig! Lach’ nicht, wenn du etwas nicht verstehst. Willst du es nun wissen oder nicht? Ich meine es im Ernst!“

„Ja, entschuldige, Mann…!“

„Also, der Axolotl ist ein Schwanzlurch, der die bemerkenswerte Fähigkeit besitzt, nicht erwachsen zu werden oder adult, wie die Biologen manchmal sagen.“

„Wie Peter Pan?“, fragte Ali.

„Nein, nicht gerade wie Peter Pan, der war ja wie Michael Jackson, nur ist das eine ganz andere Geschichte. Die Axolotl haben keine Psychoprobleme, allein ihre Biologie ist bemerkenswert. Sie bleiben ihr Leben lang im juvenilen Stadium – sie behalten die Kiemen und ihr Schwanz ist im Querschnitt nicht rund wie bei den anderen Schwanzlurchen, sondern behält die typische senkrecht abgeflachte Form, die für Larven oder Kaulquappen charakteristisch ist. Sie verlassen das Wasser nicht. Aber sie erlangen dennoch die Fähigkeit, sich fortzupflanzen – die Geschlechtsreife.“ Ich hörte aufmerksam zu, nicht weil ich dieser Theorie zur Katastrophe mehr Gewicht oder Glaubwürdigkeit geben würde als den vielen anderen Theorien, die in den letzten Tagen der Menschheit kolportiert worden waren, sondern weil ich mich fragte, woher Nicco diese Fakten hatte. Mein Gefühl signalisierte mir, dass sein Vortrag nicht auf seinen Mist gewachsen war. Die Situation erinnerte mich an die alte Geschichte mit der Kokosinsel – das Thema passte nicht zu ihm, heute genauso wenig wie damals.

„Was ist daran so besonders? Wenn sie sich nicht fortpflanzen könnten, wären sie doch ausgestorben“, sprach Ali und auch dieser Gedanke in seiner wissenschaftlich-analytischen Klarheit kam mir bei ihm seltsam wesensfremd vor, allerdings hatte er diesmal natürlich recht.

„Das Besondere ist, dass man diese Paedomorphose mit einer einfachen Spritze des Hormons Thyroxin beheben kann und dann werden Axolotl tatsächlich nicht nur geschlechtsreif, sondern auch erwachsen, was normalerweise in der Natur in der Form nicht vorkommt, in ihrem genetischen Programm indes offenbar vorgesehen ist, aber unterdrückt wird.“i

„Hä!?!?“

„Diese Frage kommt mir bei dir bekannt vor“, mischte sich Beata boshaft ein. „Ich nehme an, du verstehst das Wort Paedomorphose nicht? Also, es handelt sich hierbei um eine Art der Heterochronie, die entweder als Progenese auftritt, wenn die sexuelle Reifung des betreffenden Tieres beschleunigt wird, oder als Neotenie, bei der die sexuelle Reifung sich nicht ändert, im Gegensatz dazu sich jedoch die Entwicklung des Tieres verlangsamt oder gar zum Stillstand kommt.“ Aha, dachte ich, von dir hat Nicco diese Ideen und dein Drang, Ali lächerlich dastehen zu lassen und selber zu glänzen, war stärker als der Wunsch, aus dem Hintergrund zu agieren. Die Neotenie wäre sicher für die Kosmetikindustrie sehr interessant gewesen, ging mir durch den Kopf und mir fiel auf, dass Beata Nalga in den letzten Monaten sehr faltig geworden war und alt aussah. Dann schaute ich auf Ali und sah, dass Beatas Bissigkeit ihn eingeschüchtert und verletzt hatte. Er würde vorerst nichts mehr fragen und Nicco erwiderte kurz darauf:

„Wir Menschen können als Axolotl-Affen betrachtet werden: Wir sehen aus wie Baby-Orang-Utans oder Baby-Schimpansen. Wir behalten unser Leben lang das Kindchenschema. Wie wären wir, wenn wir adult würden, wenn wir auswachsen würden? Haariger? Aggressiver? Mit einem ausgeprägteren sexuellen Dimorphismus? Vielleicht quadruped?“ Bei diesem Anglizismus fiel mir ein, wo ich eine ähnliche These gelesen hatte – es war in Aldous Huxleys Roman After Many A Summer: Der Protagonist, der alternde Millionär Jo Stoyte, will Unsterblichkeit erlangen, indem er die Methode des 5. Earl of Gonister anwendet: sich von rohen Fischinnereien ernähren. Die Methode ist widerlich, aber scheinbar effektiv, denn der zynische Dr. Sigismund, der von Jo Stoyte beauftragt wird, den 5. Earl zu finden, kann diesen tatsächlich im Alter von 200 Jahren aufspüren. Leider war der Preis für sein langes Leben hoch – der 5. Earl of Gonister ist haarig geworden, geht auf allen vieren („quadruped“ nennt es Nicco, vielleicht hat er es aus dem Italienischen), zudem ist er aggressiv, hat die Sprechfähigkeit verloren, er versucht, eine Mozart-Arie zu summen und stinkt bestialisch.ii Er ist leibhaftig zu einer Bestie geworden. Der zynische Dr. Sigismund teilt nach dieser Entdeckung seinem Auftraggeber boshaft mit, er könne mit seinem geplanten Ernährungsprogramm beginnen, der Erfolg sei garantiert. Die Folgen werden der Fantasie des Lesers überlassen. Und nun behauptete Nicco, der ganzen Menschheit sei dasselbe widerfahren wie dem 5. Earl of Gonister? Interessante These…! Aldous Huxley wusste noch nichts über DNA, aber er kannte die Geschichte vom Axolotl von seinem Bruder Julian, demnach nahm er sich die literarische Freiheit, rohen Fischinnereien eine hormonelle Wirkung zuzuschreiben. Und jetzt sollte also Apophis-Staub dieselben radikalen Auswirkungen haben oder wie meinte er das? Nein, sehr glaubhaft kam mir das nicht vor. Allerdings zeigte es, dass Beata und Nicco sich unterhielten und dass Beata auf ihn einen überzeugenden Einfluss hatte. Das merkte ich mir, er glaubte ihr selbst das, was er selbst nicht verstand. Wir waren nur noch zu acht, aber wir waren gespalten: Beata war einer der Keile, die uns spalteten, und Nicco war auf ihrer Seite, gewissermaßen als Klotz, der auf diesen groben Keil passte.iii

Ich dachte auch an die Berggorillas, konkret an die Silberrücken, die dominierenden Männchen in einer Gruppe. Die juvenilen Gorillas blieben in ihrer Entwicklung so lange auf einer Zwischenstufe zum Silberrücken stehen, bis sie in der Lage waren, einen Harem zu dominieren. Erst dann vollzogen sich die letzten biologischen Veränderungen an ihnen und sie wurden adult. Diese Verwandlung war sicherlich hormoninduziert, ich nehme an, Testosteron spielte dabei eine Rolle; es wurde von den dominanten Männchen vermutlich in größeren Mengen ausgeschüttet, wenn sie dem Stress der Dominanz ausgesetzt waren. Und jetzt? Haben sie ohne Weibchen noch diesen Stress? Werden sich neue Silberrücken entwickeln, wenn die alten aussterben? Werden alle Männchen zu Silberrücken, wenn es keine Weibchen mehr gibt? Oder keiner? Dann wären sie – und nicht wir Menschen – das Primatenäquivalent der Axolotl.

Die Unterhaltung ging weiter, ich hatte ein paar Minuten nicht zugehört. Ali war beleidigt (zu recht, denn Beata und Nicco behandelten ihn, als ob er beschränkt wäre, obwohl er nur ungebildet war) und Nicco wurde fast ausfallend. Ich warf eine Frage ein, aus Neugierde und um zu vermeiden, dass der Streit unnötig eskalierte:

„Und woran soll man deiner Meinung nach erkennen, dass jemand zum ausgewachsenen adulten Menschen wird? Welche Symptome zeigt diese Wandlung?“

„Ich sehe, dass Sven sich verändert hat. Seine Hände und Füße sind gewachsen, er trägt keine Schuhe mehr, sondern ausschließlich Jesuslatschen, weil seine Füße nicht mehr in seine Schuhe passen. Auch sein Gesicht ist gröber geworden und knochiger. Er wird immer verschlossener, ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis er aggressiv wird“, antwortete Nicco. Das waren nicht seine eigenen Worte, er war Beatas Sprachrohr. Dennoch war die Beschuldigung ungeheuerlich. Die Crew war damit aufgefordert zu handeln. Gegen einen von uns. Gegen Sven Maven.

Allerdings: Die Symptome, die Nicco Gassi beschrieb, waren bei Sven Maven tatsächlich aufgetreten. Ich stand auf und schloss die Debatte:

„Nicco, du setzt sehr spekulative Anschuldigungen in den Raum. Das geht nicht. Ali kannst du auch nicht so zur Schnecke machen. Wenn wir schon wenige sind, müssen wir zusammenhalten oder du gehst. Gern mit Beata. Diese Zwietracht ist nicht annehmbar. Vorerst empfehle ich, dass Beata den Küchendienst für heute übernimmt. Und du kannst die Ladeluke säubern, da stinkt es noch vom letzten Fischfang.“

Ich drehte mich um und ging, meine geliebte Frau, die die ganze Zeit still zugehört hatte, begleitete mich in unsere Räume. Sie blieb schweigsam.

i Dieses Experiment wurde als erstes von Vilém Laufberger vor über hundert Jahren durchgeführt. Vgl. auch Richard Dawkins, „The Ancestor’s Tale. A Pilgrimage to the Dawn of Life.“ Phoenix, London, 2005, S. 322. Julian Huxley führte dieses Experiment in Unkenntnis der Arbeiten von Herrn Laufberger erneut durch.
ii Vgl. Richard Dawkins, “The Ancestor’s Tale. A Pilgrimage to the Dawn of Life.”, Phoenix, London, 2005, S. 103.
iii Bei anderen Salamanderarten kann ebenfalls, die richtigen Umwelteinflüsse vorausgesetzt, Neotenie auftreten. Spencer Baird hatte in Nordamerika einen Salamander, der Kiemen hatte und wie ein Axolotl Neotenie aufwies, als “devil fish” bezeichnet. Othniel Marsh entdeckte 1868, dass es sich dabei nicht um Sirenoid lichenoides handelte, wie Baird den Lurch getauft hatte, sondern um den bereits bekannten Tigersalamender (Ambystoma tigrinum). Die Lurche blieben larval wegen des alkalinen Wassers in ihren Teichen, in neutrales Wasser umgesiedelt, verloren sie die Kiemen und wurden normale adulte kiemenlose Tigersalamander. Vgl. hierzu David Rains Wallace, „The Bonehunters’ Revenge. Dinosaurs, Greed, and the Greatest Scientific Feud of the Gilded Age“, Houghton Miflin Company, Boston, New York, 1999, S. 53-54.
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