LXXXII. Keine Angst

Klaus kommt früher zurück, als ich erwartet habe, er kann nicht schlafen. Da meine geliebte Frau immer noch schläft, verlassen wir leise das Krankenzimmer und begeben uns in den Hauptsaal, vorbei an der Küche, aus der wir ein paar Kleinigkeiten zu knabbern mitnehmen. Wir nehmen vor dem großen Panoramafenster Platz, vor uns breitet sich eine beeindruckende Insellandschaft schemenhaft im Mondlicht aus. Die Katze ist wach und bettelt um Futter. Ich werfe ihr kleine Stücke hin, die sie gierig aufschnappt. Klaus trinkt einen Whisky und schweigt. Ich trinke Tee, ich traue meinen Magen weiterhin nichts Anständiges zu. Nach einer gefühlten Ewigkeit bricht Klaus das Schweigen.

„Deine Frau trauert immer noch wegen eurer Kinder, nicht wahr?“

„Wir sprechen nie darüber, aber der Tod der eigenen Kinder ist vermutlich das Schlimmste, was jemandem passieren kann. Die Erinnerung schmerzt auch mich, wenn ich daran denke, aber meistens verdränge ich meine Gefühle.“

„Männer sind gut im Verdrängen, das stimmt.“

„Es war ein Unfall – sie fuhren mit dem Wagen in Italien eine einsame Landstraße entlang und kamen nach allem, was die Carabinieri ermitteln konnten, auf gerader Strecke ohne Fremdeinwirkung von der Straße ab. Sie waren beide sofort tot. Keine Bremsspuren, kein nachvollziehbarer Grund. Entweder war unser Sohn am Steuer übermüdet oder, diesen Gedanken findet meine Frau tröstlich, sie wichen einem Tier aus.“

„Und dann kam Beata in euer Leben.“

„Zuerst in ihr Leben, ich habe mich aus dieser Therapiegruppe ferngehalten. Bis heute verstehe ich nicht, wieso Beata seitdem um uns schwirrt. Jetzt ist es auch egal. Du hast nie Kinder gehabt?“

„Nein, ganz bewusst nicht. Ich verweigere mich dem Fortpflanzungszwang. Ich bin der Meinung, es gibt, d. h. es gab, zu viele Menschen auf der Welt. Und die meisten kann ich nicht ausstehen.“

„Das ist allerdings darwinistisch unsinnig, wenn die Besten sich nicht vermehren und das Feld der dumpfen Masse überlassen.“

„Sicher, so kann man argumentieren.“ Klaus schwieg wieder eine Weile. „Aber man kann auch sagen, dass ich Realist genug war, um zu erkennen, dass ich keinen guten Vater abgeben würde. Aber danke für die Blumen!“

„Quatsch! Du wärst ein ausgezeichneter Vater gewesen! Vor allem, wenn deine Kinder männlich gewesen wären.“

„Gut, dann wäre ich eben nicht schlechter gewesen als die anderen. Das wäre mir allerdings nicht gut genug gewesen. Die anderen Menschen waren nie ein Maßstab für mich. Und jetzt ist es ohnehin zu spät. Entschuldige, wenn ich dir zu nahe getreten bin!“

„Keine Ursache! Wir kriegen ohnehin alle keine Kinder mehr, das Kapitel ist abgeschlossen. Jetzt müssen wir nur noch zusehen, wie wir allein altern und wie wir das in Würde hinkriegen. Wenn wir weiterhin keine Menschen antreffen, können wir davon ausgehen, dass nach uns nichts mehr kommt, worüber wir uns Gedanken machen müssen.“

Wir schwiegen eine Weile, ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich merkte, dass Klaus’ Whiskyflasche zu einem Drittel leer war. Ich sagte nichts, bis ich sein leises Schnarchen vernahm. Ich ließ ihn in seiner Sitzecke schlafen, er hatte es sich verdient. Ich machte mich auf den Weg nach oben zur Ausblickplattform, um den Himmelsprojektor zu inspizieren. Auf dem Weg die schmale Wendeltreppe hinauf bemerkte ich die erste Veränderung an mir. Das Gefühl der Höhenangst, das ich dabei sonst immer empfand, stellte sich nicht ein. Ich blieb auf halbem Wege stehen und blickte durch die Gittertreppenstufen hinab, vielleicht vierzig Meter tief. Kein Schwindelgefühl, keine Beklemmung. Nun, das war bemerkenswert. Ich beendete zügig die Inspektion der Aussichtsplattform und stieg wieder hinunter. Ich ließ dabei nicht die übliche Vorsicht walten, sondern lief die Stufen flotten Schrittes hinab. Unten angekommen, schaute ich durch die schmale Röhre nach oben, bevor ich die Beleuchtung ausschaltete. Lag meine Furchtlosigkeit daran, dass es Nacht war? Wohl kaum, die Beleuchtung schien hell genug. Ich ging eine weitere Etage hinab und begab mich in den großen Laderaum. Ich öffnete die großen Luken und stellte mich an den Rand. Es war immer noch dunkel, nur der Mond und die Sterne beleuchteten die Landschaft über einen halben Kilometer unter mir. Ich stand am Rand und blickte hinab. Die Aussicht war phänomenal. Ich muss wie ein Selbstmörder ausgesehen haben, fühlte mich aber euphorisch. Mich befiel tatsächlich keine Höhenangst mehr, selbst dicht am Rand der Luken, wo der Wind blies und der Geräuschpegel lauter wurde. Bemerkenswert, in der Tat! Foc war mir gefolgt, blieb jedoch einige Meter vom Abgrund entfernt, unruhig. Er klemmte den Schwanz zwischen die Hinterpfoten, hielt den Kopf gesenkt und blickte, als ob man ihn verprügelt hätte. Ich schloss die Luken, was ihn augenblicklich beruhigte.

Ich kontrollierte noch mit dem iTempt™ unsere Position, die Umgebung und das Wetter, korrigierte ein wenig die programmierte Route und ging zurück in unser Zimmer. Alle anderen schienen zu schlafen, alles war dunkel. Ich legte mich vorsichtig ins Bett zu meiner geliebten Frau, die nach wie vor schlief, und versuchte, sie dabei nicht zu wecken.

 

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