LXXXV. Angst, Furcht und Schrecken

We have nothing to fear except fear itself.i
Franklin Delano Roosevelt

Fear is the Path of the Dark Side.
Fear leads to Anger,
Anger leads to Hate,
Hate leads to Suffering.ii
Yoda

Wenn die Zeiten hart wurden, wurde früher immer der ehemalige US-amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt zitiert, der behauptete, man hätte nichts zu befürchten außer der eigenen Furcht. Von meiner heutigen Warte aus gesehen, kann ich nur sagen, dass die Zeiten schwerlich hätten härter werden können, als sie heute sind, dass ich einen Grad der Furchtlosigkeit erreicht habe, der zweifelsohne pathologisch ist, und dass seine Worte mir unbesonnen vorkommen. Ich fürchte meinen eigenen Mangel an Angst, aber meine Furcht ist intellektuell, ich fühle sie nicht wirklich, ich räsoniere sie mir zusammen. Ich versuche nur, mir ihrer Gewahr zu werden, sie nicht zu vergessen. Ich fürchte, wenn ich versuche kühl darüber nachzudenken, dass Angstlosigkeit zu Leichtsinn, Fahrlässigkeit und Waghalsigkeit führen muss, dass all diese Probleme für mich nicht zu vermeiden sein werden. Ich glaube nicht, dass man Verhalten tiefgreifend intellektuell ändern kann, einfach so durch Nachdenken. Sonst wäre es leicht, sich das Rauchen abzugewöhnen: Man müsste es sich nur vornehmen. Die Erfahrung zeigt, der rationale Wille allein reicht nicht aus. Die Motivation muss schon stark sein.

Immer wieder gehe ich mit dem Hund spazieren. Er muss Gassi geführt werden, an Bord soll er sich das nicht angewöhnen. Da ich keine Angst habe, prägt mir meine geliebte Frau ein, auf seine Angst zu achten, wenn er sie denn zeigt. Aber was soll ich machen, wenn er keine zeigt? Er ist kein feiger Hund. Sie überredet mich oft, hohe Stiefel anzuziehen und Hosen aus festem Stoff, besonders in den Tropen, ganz besonders dort, wo das Gras hoch wächst. Wegen der Schlangen und Skorpione, sagt sie mir. Diesbezüglich habe ich mehr Angst um Foc. Bemerkenswert, wie die Angst im Kopf sich dissoziieren lässt in die Angst, die man verspürt (oder auch nicht, wie in meinem Falle), und die, über die man nachdenkt.

Foc ist als Hund Verlängerung meiner Persönlichkeit, Katzen hingegen sind souverän. Dafür ist er viel treuer, anhänglicher und er vermittelt mir das Gefühl, von mir abhängig zu sein.

Ich bringe meiner geliebten Frau regelmäßig Blumen mit. Sie geht ja nicht mehr hinaus. Sie freut sich. Immerhin.

Die Angst stellt eines der ursprünglichen Gefühle dar, tief im Stammhirn verankert. Angst ist unerlässlich zum Überleben, auch und gerade im darwinistischen Sinne. Darüber hinaus ist sie eine Droge mit einem enormen Suchtpotential. Und nun habe ich keine Angst mehr. Welche Läsion habe ich? Wie wird man ohne Angst? Unmenschlich? Untierisch? Übermenschlich? Untermenschlich? Gute Wut ist nicht so gefährlich wie kalter Zorn. Seitdem ich keine Angst mehr habe, fühle ich mich gefährlich. Verdränge ich meine Angst, staut sie sich in mir auf, wird sie eines Tages aus mir herausplatzen oder empfinde ich tatsächlich keine Angst mehr? Wie soll das gehen? Meine geliebte Frau ist meine Festung, mein Bollwerk gegen mich selbst.

Ich frage mich, was mit meinem Gehirn los ist, und stöbere auf der Suche nach Antworten meinem iTempt™ im Datenfundus von Deep Doubt herum. Zum Thema Gehirn gibt es nicht wenig, dem ist ein großer Teil der Neuropathologie gewidmet. Wo soll ich bloß anfangen?

Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte der aus Baden stammende Arzt und Anatom Franz Josef Gall die Lehre der Phrenologie. Dieser Lehre zufolge besteht ein Zusammenhang zwischen bestimmten, topologisch klar abgegrenzten Arealen im Gehirn und den geistigen und charakterlichen Eigenschaften des zu diesem Gehirn gehörenden Menschen. Im Laufe der Entwicklung dieser Lehre gingen deren Anhänger sogar davon aus, anhand der Form des Schädels die Persönlichkeit, den Charakter und die geistigen Fähigkeiten des betreffenden Menschen präzise diagnostizieren zu können. Das war natürlich Quatsch, aber dennoch kann man der Phrenologie und Herrn Dr. Gall nicht abstreiten, dass sie wichtige Impulse für die Gehirnforschung und die Kognitionslehre gegeben haben, wenn auch, wie so oft, aus den falschen Gründen mit irrigen Annahmen. Nun gut, wenn man bereits im Voraus wüsste, was man entdecken will, hieße diese Tätigkeit nicht Forschung, sondern Nachschlagen. Und so schlage ich über zweihundertfünfzig Jahre, nachdem Herr Dr. Gall seine Theorie 1769 skizzierte, nach, wie sich diese Theorie entwickelte, sich verzweigte, wie sie, besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem ihre Grundlagen in groben Zügen bestätigt worden waren, in die Kraniometrie abdriftete – eine Art Physiognomik des Schädels –, und auch wie die rassistischen Rassenkundler die Vermessung der Schädel nutzten, um andere Völker und Länder zu diskreditieren, diskriminieren und letztendlich umzubringen. Die Anthropologie und die Ethnologie gaben sich ebenfalls der Kraniometrie hin, aber nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Vorgehensweise dermaßen in Verruf geraten, dass nur noch Archäologen sie anwenden, um Erkenntnisse zur menschlichen Evolution zu gewinnen. Sie bei lebenden Menschen durchzuführen, verbot sich nach den Morden der Nazis kritiklos und ohne Hinterfragung von selbst. In der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen hatte sich die Phrenologie überdies in Richtung Kriminalistik entwickelt, entsprechend sind die Fotografien zahlreicher Insassen verschiedener Nerven- und Strafanstalten systematisch aufgenommen, gesammelt und ausgewertet worden. Das erklärte Ziel dieser Analysen war nichts Geringeres als die Vorabdiagnose und Prävention zukünftiger Verbrechen. Die Lichtbilder der damaligen Verbrecher und Irrenanstaltinsassen sind oft schauderhaft bemerkenswert. Sie stieren furchterregend in die Kamera, die langen Belichtungszeiten haben vermutlich einiges dazu beigetragen, dass die Aufnahmen so unmenschlich aussahen.

Eine andere Forschungsrichtung der Phrenologie entwickelte sich in eine erfolgreichere Richtung und führte zu den modernen Neuro- und Kognitionswissenschaften. Im 19. Jahrhundert und während des größten Teils des 20. Jahrhunderts, vor der Entwicklung der bildgebenden Verfahren, stellten Hirnläsionen den einzig gangbaren Weg dar, die Funktionsweise des Gehirns zu entschlüsseln. Die Methode war einleuchtend: Man suche jemanden mit einer Läsion im Gehirn, untersuche, welche Folgen diese Läsion für das Verhalten des Betreffenden hat, und schließe daraus auf die Funktion des fraglichen Gehirnareals. Wo genau die Läsion sich befand und wie ernsthaft sie war, konnte leider oft erst post mortem ermittelt werden, das war ein Problem. Pierre Paul Broca, ein französischer Anthropologe und Arzt, hatte um 1860 einen – in der Fachliteratur als „Monsieur Tan“ – bekannten Patienten, der in seinem bürgerlichen Leben M. Leborgne hieß. Er war an Syphilis erkrankt, als Folge seiner Infektion erlitt er eine Hirnläsion in der dritten Furche des Vorderlappens. Er schien keine Schwierigkeiten mit dem Verstehen von Sprache zu haben, er begriff, was man ihn fragte, und versuchte zu antworten. Leider war er nur noch in der Lage, eine einzige Silbe auszusprechen, die er allerdings immerhin modulieren konnte: Die Silbe lautete „Tan“. Durch diese Fähigkeit zur Modulation gewann man die Erkenntnis, dass er verstand, was er hörte. Aber ein Bereich seines Gehirns war lädiert, daher konnte er sich nicht differenziert ausdrücken. Eben dieser Bereich, den man bei der Obduktion des Monsieur Tan zwischen dem Frontallappen und dem Temporallappen genau lokalisierte, ist heute seinem Arzt zu Ehren als „Broca-Zentrum“ bekannt. Der Name Pierre Paul Broca wurde mit 71 weiteren französischen Koryphäen am Eiffelturm verewigt, an der Südwestseite des Turms zwischen den Namen des Ingenieurs Jousselin und des Physikers Becquerel. Broca wurde nur 56 Jahre alt; er wurde vor seinem frühen Tod zum Senator auf Lebenszeit der Französischen Republik ernannt und war natürlich Mitglied der Académie de Médecine. Sein Gehirn wurde bis zuletzt im Musée de l’Homme in Paris aufbewahrt.

Der ostpreussische Arzt Carl Wernicke wiederum entdeckte 1874 das sensorische Sprachzentrum (das – ebenfalls ihm zu Ehren so genannte – „Wernicke-Areal“) im Gehirn, das für das Verstehen von Sprache zuständig ist. Dieses Areal ist nicht weit von Brocas lokalisiert und zeigt den Unterschied zwischen Verständnis und Ausdruck. Noch Jahrzehnte später würde Oliver Sacks Bücher über diese und ähnlich gelagerte Fälle schreiben, die mit plastischen Beispielen zeigen, welche Folgen das Fehlen einzelner Gehirnmodule auf unser Denken haben kann. In diesem Sinne lebte die Phrenologie weiter. Auf die Interaktion verschiedener solcher Module deutete vor Brocas und Wernickes Entdeckungen bereits der Fall des Phineas Gage hin – ein bemerkenswerter Fall, leider nicht gut genug dokumentiert und mit vielen Unwägbarkeiten versehen, vermutlich deswegen wurde der Fall nicht schon vorher und intensiver von den Neurologen (die sich damals nicht so nannten) aufgegriffen. Dafür wurde Herr Gage hundertundfünfzig Jahre nach seinem Tod zur cause célèbre (die Sprache der Medizin war damals nicht Englisch, sondern Französisch):

Es war der 13. September 1848 in Cavendish, Vermont, USA, so gegen halb fünf nachmittags. Herrn Gages Arbeit bestand darin, auf einer Baustelle der Eisenbahngesellschaft in zuvor gebohrte Löcher zunächst Sprengstoff, daraufhin einen Zünder und dann Sand einzufüllen, um abschließend die Sprengbohrung mit einer Eisenstange zu kompaktieren; das heißt, er hat mithilfe der Eisenstange die Materialien mit Stößen in Handarbeit gepresst, um die Sprengwirkung zu erhöhen. Es ist zu vermuten, dass er an diesem Nachmittag den Sand weggelassen oder zu wenig von ihm benutzt hat oder der Sprengstoff war an diesem Tag besonders entzündlich. So oder so, das Schwarzpulver explodierte und die Eisenstange, die Herr Gage in den Händen hielt, flog in einem weiten Bogen fünfundzwanzig Meter weit. Die von einem befreundeten Schmied eigens für Herrn Gage hergestellte Eisenstange bohrte sich in seinen Schädel, drang durch seinen linken Oberkiefer ein und kam durch die Schädeldecke wieder heraus. Dabei zerstörte sie seinen linken Augapfel und in jedem Falle den linken, eventuell auch den rechten Temporallappen seines Gehirns und hinterließ einen großen Wundkanal. Die Stange war gut geschmiedet: Das Ende, das zuerst in seinen Schädel eindrang, lief spitz zu, ihre Gesamtlänge betrug knapp über einen Meter, die Dicke etwa drei Zentimeter, das Gewicht ungefähr sechs Kilogramm; die Eisenstange war gerade wie ein Speer, durch den Gebrauch blank poliert. Dieses Umstand hat vermutlich Herr Gages Leben gerettet. Erstaunlicherweise konnte Herr Gage nach wenigen Augenblicken aufstehen und reden, er wurde sitzend in einem Pferdewagen zum nächsten Dorf gefahren, wo er von einem skeptischen Arzt behandelt wurde. Er blieb bei Bewusstsein und berichtete von dem Unfallhergang, was der diensthabende Arzt, Dr. Edward H. Williams, zunächst nicht glauben wollte. Herrn Gages Gehirn war sichtbar und pulsierte. Als er sich erbrach, vermutlich infolge des Schocks und des Blutverlustes, drückte Gehirnmasse aus seinem Schädel und fiel auf den Boden. Er und das Bett, in dem er lag, waren blutverschmiert. Ungefähr eine Stunde später übernahm Dr. John Martyn Harlow den Fall, ihm sind die Daten zur späteren klinischen Historie zu verdanken.

Zunächst verschlechterte sich Herrn Gages Zustand, die Wunde entzündete sich, nach zehn Tagen fiel er in ein Wachkoma, aus dem er erst am 3. Oktober wieder erwachte. Bereits vier Tage später konnte er aufstehen und benahm sich „sehr albern“; zwar bekam er erneut Fieber, aber sein Zustand verbesserte sich wieder und im Frühling des darauffolgenden Jahres konnte er als geheilt angesehen werden, bis auf den Verlust des Augenlichts im linken Auge, die Entstellung als Folge der Narben und einer partiellen Lähmung des Gesichts. Herr Gage war offenbar nicht mehr in der Lage, für die Eisenbahngesellschaft zu arbeiten; es wird berichtet, dass er als Attraktion bei einer Kirmes in New York auftrat, wo er zusammen mit der Eisenstange dem gaffenden Publikum vorgeführt wurde. Später soll er an die zehn Jahre in Chile als Pferdekutschenlenker gearbeitet haben, bis sich seine Gesundheit erneut verschlechterte. Er ging zurück in die USA, dieses Mal an die Westküste, nach San Francisco – seine Mutter und seine Schwester waren in der Zwischenzeit dorthin gezogen –, und arbeitete in einer Farm in Santa Clara. Er litt zunehmend an epileptischen Anfällen und starb im Mai 1860, keine zwölf Jahre nach seinem bemerkenswerten Unfall.

Dr. John Martyn Harlow erfuhr im Jahre 1866 auf verschlungenen Pfaden von Herrn Gages Tod und korrespondierte in der Folgezeit mit seiner Familie, vor allem mit seiner Mutter. Diese Korrespondenz und die darauf basierenden Aufzeichnungen und Berichte des Dr. Harlow bilden die Grundlage für die Informationen, die heute über Herrn Gage bekannt sind. Dr. Harlow überzeugte die Familie, Herrn Gages Grab zu öffnen und ihm dessen Schädel zu senden. Die Eisenstange, die Herr Gage zunächst dem Warren Anatomical Museum in der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts, gestiftet, später als persönlichen Talisman indes wieder an sich genommen hatte, begleitete den Schädel auf dieser Reise erneut. Heute sind beide, Schädel und Stange, wohl wieder im Warren Museum zu sehen, sofern es das Museum noch gibt. Museen haben unter Apophis’ Folgen sehr gelitten. Von 1866 bis zum Jahre 2029 waren sie jedenfalls dort ausgestellt, so viel ist sicher. Es sind die Berichte des Dr. Harlow, die diesem Fall nachträglich berühmt gemacht haben.

Diese Berichte wurden verfasst, als Dr. Pierre Paul Broca seine ersten Befunde über Monsieur Tan bereits veröffentlicht hatte. Ich weiß nicht, ob Dr. Harlow davon Kenntnis erlangte, das hätte auf jeden Fall seinen Ausführungen einen klaren wissenschaftlichen Rahmen gegeben und seinem Denken eine Richtung verliehen. Sicher ist nur die Behauptung, Herr Gage hätte nach seinem Unfall eine Veränderung seiner Persönlichkeit durchlebt: Herr Gage soll sich von einem arbeitsamen, wenngleich ungebildeten jungen Mann, ordentlich, zuverlässig, freundlich, ausgeglichen und anständig, in einen unzuverlässigen, wankelmütigen, unordentlichen, kindischen und impulsiven Menschen gewandelt haben. Es war später nicht mehr auszumachen, ob dieser Befund auf den eigenen Beobachtungen des Herrn Gage um die Zeit des Unfalls herum beruhte, auf den späten Briefen seiner Mutter, die diese aufgrund der eigenen Erfahrungen in den letzten Monaten seines Lebens mit ihr in San Francisco schrieb, oder auf das, was die Mutter vom Hörensagen weitergab. Warum Dr. Harlow seinen Bericht erst so spät verfasst hat, bleibt unverständlich. Nach der langen Zeit sind einige Übertreibungen und Ungenauigkeiten zu erwarten, ein Ausschmücken der Geschehnisse ist Teil der Präsentation. Erst Jahre nach Gages Tod betont Dr. Harlow dessen tiefgreifenden Persönlichkeitswandel, der seiner Beobachtung nach stattgefunden haben soll. Aber selbst wenn dieser überlieferte Wandel übertrieben sein sollte: Es verdichteten sich in der medizinischen Literatur und Forschung die Hinweise darauf, dass der Geist im Hirn seinen Ursprung hat, dass die Persönlichkeit körperlich ist; die Phrenologie führt die Inkarnation des Geistes in die Neurologie über, die Fleischwerdung von Seele und Geist wird gerade bei Kranken deutlich. In letzter Konsequenz führt Franz Joseph Galls Hirn- und Schädellehre zu der Erkenntnis, dass es die Seele zum einen nicht gibt und dass sie schon gar nicht unsterblich ist.

Phineas Gages Fall war außergewöhnlich, aber er blieb kein Einzelfall. Viele andere erlitten extreme Kopfverletzungen und überlebten sie – mehr oder minder beeinträchtigt – mehr oder minder verändert. Der Erste Weltkrieg stand vor der Tür, die verbesserte Medizin sollte das Überleben vieler ermöglichen, die in früheren Kriegen an ähnlichen Wunden gestorben wären. Manch einer wünschte sich, die Opfer wären tatsächlich gestorben, viele wurden weggesperrt, weil ihr Leiden unerträglich für die Zuschauer erschien. Für die Betroffenen erst, sollte man meinen… Man lernte viel, nicht nur über Gehirnläsionen, zum Thema Prothesen und Sedation gab es ebenso Fortschritte. Neue Kriege brachten mehr zweifelhafte Fortschritte zu diesem traurigen Fachgebiet: der Zweite Weltkrieg, der Korea-Krieg, Vietnam… Es überlebten immer mehr Fälle (so nennen die Ärzte betroffene Menschen, damit sie ihnen emotional nicht zu nahe kommen), die ähnlich verzweifelt lagen wie der des Phineas Gage. Entscheidend war hier vor allem eine schnelle Behandlung wie bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt. Wer nicht rechtzeitig behandelt wurde, wie beispielsweise Leo Trotzki, starb wie seit jeher an seinen Gehirnverletzungen.

Trotzki hatte das Pech von Ramón Mercader am 20. August 1940 in der mexikanischen Stadt Coyoacánmit einem Eispickel angegriffen worden zu sein. Er starb einen Tag später, nachdem er lange bei Bewusstsein ausgeharrt und noch die Kraft für einige Diktate gefunden hatte. Der Eispickel wurde operativ entfernt, aber der Schaden war zu schwer. Ob er an den neurologischen Folgen der Verletzung starb oder am Blutverlust, lässt sich, wie alles heute, nicht mehr abschließend klären. Wenn Trotzki vierzig Jahre später angegriffen worden wäre, wie James Brady, und wenn er wie dieser sofort in ein voll besetztes Krankenhaus gebracht worden wäre, hätte man ihn wohl retten können. Anderseits wäre er 1980 an die hundert Jahre alt gewesen – es ist nur eine anachronistische Annahme.

James Brady allerdings, und das ist keine Annahme sondern verbürgte Überlieferung, überlebte eine Schusswunde rechts auf der Stirn – eine Verletzung, die der von Herrn Gage über hundertdreißig Jahre früher nicht unähnlich war. Die Wunde erlitt er als unbeabsichtigte Folge des von John Hinckley, Jr. am 30. März 1981 durchgeführten Mordversuchs an dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan. Die erste Kugel, die Hinckley abfeuerte, zerschmetterte Bradys Schädel. Die zweite traf den Polizisten des District of Columbia Thomas Delehanty am Rücken, die dritte durchschlug ohne weitere Folgen ein Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die vierte traf den Agenten des Geheimdienstes Timothy McCarthy am Unterleib, die fünfte die Innenseite des Panzerglases der geöffneten Tür der Präsidentenlimousine, erst die sechste Kugel verletzte Ronald Reagan an der linken Achsel und durchbohrte seine Lunge bis sie kurz vor seinem Herz steckenblieb, allerdings erst nachdem sie an der gepanzerten Limousine abgeprallt war. Das flachte sie vermutlich ab und verlangsamte sie so weit, dass der Präsident überleben konnte. Herr Hinckley war wohl kein guter Schütze. Er hatte es auch nicht leicht: Zum einen macht Liebe blind – er gab seine unerwiderte Liebe zur Schauspielerin Jodie Foster als Mordmotiv an –, zum anderen warfen sich alle Sicherheitskräfte augenblicklich auf ihn. Dennoch gelang es ihm sechs Schüsse in drei Sekunden abzufeuern, doppelt so viele, wie Kennedy 1963 getötet hatten. James Brady blieb bei diesem Attentat am Leben, seine geistigen Fähigkeiten wurden scheinbar nicht sehr beeinträchtigt: Er hatte noch immer einen scharfen Verstand, einen manchmal bösartigen Sinn für Humor, eine schnelle Auffassungsgabe – sein Gedächtnis schien nicht sehr beschädigt (Neurologen unterscheiden zwischen dem Arbeitsgedächtnis, zwischen optischem, auditivem, deklamatorischem, prozeduralem, episodischem, anterograden, retrograden und anderen Gedächtnisformen, das hängt davon ab, wonach man Ausschau hält. Sie waren sich nicht sicher, welche Fähigkeiten bei Herrn Brady mehr und welche weniger gelitten hatten; er war sehr geschickt im Verbergen seines Mankos, seine politischen Überlebensinstinkte hatten ihn nicht verlassen). Ist Herr Brady ein für mich brauchbarer Spiegel, durch den ich die Veränderungen, die ich durchlebe, besser einordnen, betrachten und verstehen kann?iii Ich habe meine Zweifel. Aber es gibt noch andere Opfer von Gehirnläsionen, die für mich vielleicht aufschlussreicher sind.

Ahad Israfil zum Beispiel: Er war 1987 vierzehn Jahre alt, als er an seinem Arbeitsplatz in Dayton, Ohio, von einer Feuerwaffe, die versehentlich abfeuerte, als sie sein Chef auf den Boden fallen ließ, am Kopf getroffen wurde. Er wurde schleunigst in die Notaufnahme gebracht und über fünf Stunden lang operiert. Nach der Operation fehlte ihm die rechte Hälfte des Gehirns, der Schuss und die darauf folgende chirurgische Behandlung liefen de facto auf eine Lobotomie hinaus. Schädel und Gehirn waren weg, aber sein Skalp war noch brauchbar, und als die Leere in seinem Schädel mit Silikon aufgefüllt und die Kopfhaut darüber wieder genäht wurde, sah er ziemlich normal aus. Sogar das Haar auf seinem Kopf wuchs wieder. Jetzt, während ich Ahads Geschichte lese, muss ich unwillkürlich an die schöne Blondine mit der prallen Oberweite denken, die ich über den Berliner Ku’damm mit einem T-Shirt laufen sah, auf dem die Aufschrift prangerte:

I WISH
THESE WERE
BRAINS

Damals musste ich lachen, ich dachte an meine Ex-Frau (jeder macht Fehler), der ich dieses Kleidungsstück spontan gern geschenkt hätte. Ich unterließ es natürlich, war wohl im Nachhinein gesehen auch taktvoller und geschickter so. Heute, während ich die Geschichte Ahad Israfils und seines mit Silikon gefüllten Schädels lese, bleibt mir das Lachen im Halse stecken. Das ist vermutlich positiv zu bewerten, es zeigt, dass ich, wenn schon nicht der Angst, doch wenigstens der Empathie fähig bin. Ich habe keine Furcht, aber noch Mitgefühl. Das ist erfreulich. Es ist sicher auch als Erfolg anzusehen, dass sich Ahad Israfil erstaunlich gut und schnell erholte: Kurz nach der OP versuchte er zu sprechen. Zwar brauchte er Zeit seines Lebens einen Rollstuhl, aber er hat die meisten seiner kognitiven Fähigkeiten behalten oder wiedererlangt; er hat sogar seinen College-Abschluss geschafft. Hilft er mir, mich besser zu verstehen, um zu erklären, was mit mir los ist? Ich weiß es nicht. Ahad Israfil zeigt immerhin, dass das Gehirn ein sehr plastisches und anpassungsfähiges Organ ist. Es hat sehr wohl seine Grenzen: Das Gehirn ist lebenswichtig, repariert sich nach Schädigung allerdings nicht. Es passt sich jedoch an, indem neue Areale Aufgaben übernehmen, die die zerstörten Bereiche nicht mehr erfüllen können. Es lässt sich nicht transplantieren, aber es ist redundant genug, um ein Reset durchzustehen, wenn die Bedingungen günstig sind. Manche Teile des Gehirns vergessen nie etwas, insbesondere die Amygdala nicht, behaupten die Neurologen. Andere scheinen immer bereit, etwas Neues zu lernen, wenn es geht. Es geht aber nicht immer, wie der Fall des Patienten HM zeigt.

Meine geliebte Frau kam auf dem Weg in die Kühlkammer an meinem Sitzplatz vorbei und schaute mir über die Schulter.

„Was ist anterogrades Gedächtnis? Kann man sich etwas merken, bevor es passiert?“

„Nein, es geht um das Gedächtnis des Jetzt, der Gegenwart. Ich nenne es so, weil das Fehlen dieses Gedächtnisses die anterograde Amnesie verursacht, bei der man ab einem bestimmten Punkt im Leben immer in der Gegenwart lebt, aber sich die Vergangenheit nicht merken kann. Manchmal gar keine Vergangenheit, manchmal nur die Vergangenheit, die seit der verursachenden Läsion vergangen ist. Die Kindheitserinnerung zum Beispiel sind dann nicht betroffen.“

„Ach so! Ja, das geht. Ich habe auch darüber gelesen.“

„Das Gegenteil ist die retrograde Amnesie, wie in schlechten Filmen: Man erinnert sich an eine bestimmte Begebenheit oder einen Zeitabschnitt nicht. Das Leben geht normal weiter, indes ist eine Episode ausgeblendet und unzugänglich. Manchmal für immer, manchmal lediglich für eine begrenzte Zeit, was die schlechten Filme gern zur Spannungserzeugung einsetzen.“

„Das kann ich mir gut vorstellen: Nach einem Unfall weiß man im Schockzustand oft nicht mehr, wie etwas vor sich gegangen ist.“

„Ja, und das lese ich gerade. Ich suche etwas zu meiner Furchtlosigkeit.“

„Ich habe, wie gesagt, auch einiges gelesen. Ich habe erfahren, dass Furchtlosigkeit gefährlich ist: Wenn man keine Angst hat, hat man auch keine Verantwortung. Das können wir uns nicht leisten.“ Meine geliebte Frau war, wenn nötig, schon immer sehr sachlich gewesen. Das gefiel mir an ihr. Ich fand es beruhigend, dass sie mich im Auge behielt. „Ich darf das nicht zulassen. Du ebenso wenig. Verstehst du, was ich meine?“

„Das leuchtet mir ein, klingt logisch. Wenn etwas ist, höre ich auf dich. Du musst es mir nur sagen.“ Meine geliebte Frau ging fort, ich las weiter und sprach meine Notizen in meinem iTempt™.

HM hieß mit richtigem Namen Henry Gustav Molaison, aber der wurde zum Schutz seiner Intimsphäre erst nach seinem Tod veröffentlicht, in der Fachliteratur hieß er nur HM oder Henry M. Er lebte vom 26. Februar 1926 bis zum 2. Dezember 2008 und wurde vor allem in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts sehr intensiv studiert. Er konnte sich niemals an die Untersuchungen erinnern, weil ihm die Fähigkeit abhanden gekommen war, Erinnerungen, die über wenige Sekunden oder Minuten hinausgingen, dauerhaft in sein Gedächtnis zu speichern. Er wunderte sich seit seinem siebenundzwanzigsten Lebensjahr bis hin zu seinem Tode, das er von Medizinern genauestens studiert wurde. Da er sich im Anschluss aber nicht daran erinnerte, dass er bereits erforscht worden war, und da er offenbar ein gutmütiger Mensch war, ließ er die Studien immer wieder zu. Er erwarb sich damit den Ruf, der am häufigsten untersuchte Mensch der Medizingeschichte zu sein. Lang genug lebte er, länger als viele der ihn untersuchenden Ärzte. Dass er das alles mit sich machen ließ, lag nicht in seinem Ermessen: Er litt an epileptischen Anfällen und wurde, da diese Anfälle lebensbedrohlich waren und er auf die Therapien nicht reagierte, am 1. September 1953 von Dr. William Scoville am Gehirn operiert. Die Operation war insofern erfolgreich, als dass die epileptischen Anfälle aufhörten, aber sein Hippocampus, seine Amygdala und umgebende Regionen des Cortex wurden verletzt, weshalb er fortan die Fähigkeit verlor, neue Erinnerungen dauerhaft zu speichern. Er blieb dennoch er selbst, mit seinem eigenen Sinn für Humor, seiner eigenen Persönlichkeit, nur praktisch ohne Erinnerungiv. Er hatte dennoch Stimmungsschwankungen, obwohl er nicht erklären konnte, warum. Die Situation erinnerte mich an den alten Film von 1993 Und täglich grüßt das Murmeltierv, nur andersherum, als ob alle Darsteller – wie Bill Murray im Film – genau wissen, was passieren wird, nur einer nicht. Ob HM das ebenso so sah oder ob er es gleich wieder vergaß, wenn er es denn überhaupt so sehen konnte? Den Film sollte ich mir mal wieder ansehen, aus dieser etwas anderen Perspektive habe ich ihn noch nie betrachtet. Vielleicht mit meiner geliebten Frau? Wir haben uns lange keinen Film mehr gemeinsam angeschaut. Bringt mich das bei meiner Suche weiter? Ich fürchte, nicht wirklich. Ich habe nicht mein Gedächtnis verloren, nur meine Angst.

Auch die Geschichte von Michael Hill ist für mich nicht wirklich von Nutzen. Er überlebte eine Messerattacke am 25. April 1998 in Jacksonville, Florida, wo er einen Freund besuchte. Das Messer wurde ihm in den Schädel gestoßen und erst vier Stunden später chirurgisch entfernt. Es gilt als das größte Objekt, das jemals aus dem Schädel eines Menschen entfernt worden ist. Die Auswirkungen für Michael Hill: Seine linke Hand ist paralysiert, Teile seines Gedächtnisses sind ausgelöscht und er benötigt seitdem Medikamente gegen epileptische Anfälle, ansonsten jedoch scheint er keine Folgen davongetragen zu haben. Was erfahre ich daraus über meinen Fall? Außer, dass alle Patienten Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis hatten, wovon ich glaube, nicht betroffen zu sein, wenig. Dass man Schäden am Gehirn sehr unterschiedlich deuten kann, dass intelligente Personen viele dieser Schäden vor der Außenwelt erfolgreich kaschieren können, oder gute Strategien entwickeln, um damit zurechtzukommen. Hat das etwas mit mir zu tun? Ich glaube nicht… Ich lese weiter:

Clive Wearing verlor ebenfalls die Fähigkeit, neue Erinnerungen zu festigen, aber bei ihm war es die Folge einer Virusinfektion im Gehirn, einer Herpes-simplex-Enzephalitisvi, die er im Alter von 47 Jahren erlitt. Auch Clive Wearing blieb nach wie vor er selbst: Er liebte seine Frau und freute sich jedes Mal wie ein Kind, wenn er sie sah, da er dachte, sie seit Jahren nicht gesehen zu haben. Er erinnerte sich nicht, dass sie gerade erst und nur für kurze Zeit aus dem Zimmer gegangen war. Er war Musiker und konnte nach wie vor Klavier spielen, obwohl er nicht wußte, wie oder wann er diese Fähigkeit erlernt hatte. Zudem konnte er einen Chor leiten, er konnte sich nur nicht erklären, wieso. Nein, das ist ebenso wenig mein Fall. Ich habe den Eindruck, mein Versuch einer Selbstdiagnose schlägt fehl.

Vielleicht sollte ich der Vollständigkeit halber den Fall des Cenn Fáelad mac Aillila erwähnen, nicht weil er mich mehr oder direkter betreffen würde, sondern weil er, verglichen mit den bisher dargelegten Fällen, genau entgegengesetzt gelagert ist. Cenn Fáelad mac Aillila war ein irischer Gelehrter des siebten Jahrhunderts. In der für Iren wichtigen Schlacht von Maigh Rath im Jahre 636 n. Chr. erlitt er eine schwere Kopfwunde. Die Folge dieser Wunde: lebenslängliche Kopfschmerzen (was nicht unerheblich ist, wenn man bedenkt, dass er erst im Jahre 679 gestorben ist) und die Fähigkeit, sich angeblich alles merken zu können, was er hörte oder las. Auch dieser Fall ist anders gelagert, aber er zeigt immerhin, dass das Gehirn viele Überraschungen parat hat. Im günstigsten Fall kann es nach einer Läsion sogar besser funktionieren als zuvor. Allerdings ist die Überlieferung um Cenn Fáelad mac Aillila nicht hundertprozentig zuverlässig. Vieles klingt nach Mythos oder nachträglich angedichteter Legende. Kein Wunder angesichts der langen Zeit, die seit damals vergangen ist.

Nein, ich bin nicht klüger geworden. Ich habe nur wenige relevante Fälle gefunden, ich weiß auch nicht, wie ich effizienter suchen soll. Es muss noch mehr geben, vermutlich aber ist vieles davon Verschlusssache, da militärischer Natur – das ist natürlich nur eine Vermutung von mir, die auf der Annahme beruht, dass die meisten Kopfwunden die gut und rechtzeitig behandelt, geheilt und dokumentiert wurden in Zusammenhang mit militärischen Auseinandersetzungen verursacht wurden, mehr nicht.vii Ich werde wohl weiter nachdenken und meine geliebte Frau bitten müssen, mich zu beobachten. Ich weiß, dass sich in mir etwas geändert hat. Ich weiß nur nicht, was. Ich schalte mein iTempt™ auf Schlafmodus und denke mir, dass es so schlimm nicht sein kann, ich lebe noch.

Bei den ehemaligen Menschen „da unten“ muss sich gleichermaßen etwas verändert haben. Die Frage ist nur, ob es dasselbe wie bei mir gewesen ist, ob es einen Zusammenhang mit dem Ende der Zivilisation gibt und welche Folgen das für mein zukünftiges Verhalten haben kann. Und für die anderen an Bord. Und für Alis Zustand, der bis heute mit Fieber halbkomatös bettlägerig ist und es nicht schafft, von seiner Grippe zu genesen.

Oh! Da fallen mir die Kinder ein, die ohne Schmerzempfinden zur Welt kommen! Ich sage Kinder, weil sie in der Regel nicht alt wurden. Sie entwickelten die üblichen Schutzmechanismen gegen Verletzungen nicht, hatten nicht nur kein Schmerzempfinden, sie hatten ebenso wenig Angst vor Schmerz entwickelt. Ihr alltägliches Verhalten war entsprechend gefährlich für sie. Gibt es demnach einen Sinn für Angstempfinden, wie es einen für Gleichgewicht gibt? Oder einen für Kälte- oder Hitzeempfinden? Anderseits: Ich habe davon gelesen, dass andere Menschen vor mir den Sinn für Angst verloren haben.viii Von Menschen, die als Erwachsene ihren Sinn für das Empfinden von Schmerz verloren hätten, habe ich hingegen in Deep Doubts Datenfundus nichts gefunden. Dafür eine mich verwirrende Unterscheidung zwischen Angst und Furcht.ix Ich grüble, ob das zwei unterschiedliche Konzepte sind oder nur unterschiedliche Manifestationen bzw. Gradationen desselben Unwohlseins. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen müssen: Was habe ich verloren, meine Angst oder meine Furcht?

Ich entsann mich der Parasiten, die unser Verhalten ändern, über die sich meine geliebte Frau so viele Gedanken gemacht hatte, und mir fiel meine Herpesinfektion ein, die mich vor jedem neuen und stets in den unpassendsten Momenten wiederkehrenden Ausbruch in eine miserable und unausstehliche Laune versetzte, obwohl mir kein Mechanismus einfiel, wie diese Verhaltensweise für das Virus und seine Verbreitung förderlich sein könnte. Manche Folgen einer Infektion sind offenbar zufällig, es muss nicht alles einen Nutzen haben; dem infektiösen Agenten und seiner Evolution reicht es wohl, wenn die Veränderungen, die er verursacht, für sein Überleben und seine Verbreitung mindestens neutral sind. Meine Gedanken verloren sich dann in der Überlegung, dass die Einteilung in Parasiten, Bakterien und Viren eine willkürliche war, die vermutlich nur deswegen zustande gekommen war, weil verschiedene wissenschaftliche Disziplinen sich monodisziplinär um die verschiedenen Wesensarten kümmerten. (Notiz am Rande: Schweife ich öfter ab als früher? Kann ich mich weniger konzentrieren? Beobachten!) Nur mit meinen Untersuchungen war ich nicht zielführend weitergekommen. Ich wusste immer noch nicht, wie Parasiten, Viren oder Bakterien innerhalb meines Gehirns oder sonst wo mein Verhalten beeinflussten. Falls dies denn tatsächlich der Fall war.

i „Wir haben nichts zu befürchten außer unsere eigene Furcht.“
ii „Furcht führt zur dunklen Seite. Furcht führt zu Zorn, Zorn führt zu Hass, Hass verursacht Leiden.“
iii Vgl. The New York Times Magazine, 27. September 1981.
iv Vgl. The Economist, Obituary, 18. Dezember 2008.
v In der englischen Originalfassung Groundhog Day.
vi Vgl. Oliver Sacks, „Musicophilia: Tales of Music and the Brain”, Alfred A. Knopf Editors, New York, 2007.
vii Siehe „War Surgery in Afghanistan and Irak – A Series of Cases, 2003-2007“, edited by Shawn Christian Nessen, DO, FACS, LTC, MC, US Army, Dave Edmond Lounsbury, MD, FACP, COL, MC, US Army (retired) und Stephen P. Hetz, MD, FACS, COL, MC, US Army (retired). © 2008 by R. Paul Gauthier, Published by the Office of The Surgeon General, Borden Institute, Walter Reed Army Medical Center, Washington DC 20307-5001.
viii Vgl. Gerhard Roth, „Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern.“, Klett-Cotta, Stuttgart, 2007, S. 97.
ix Vgl. Gerhard Roth, „Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert.“, Neue, vollständig überarbeitete Ausgabe. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main, 2003, S. 332-340.
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