XIII. Kiros Arsch

Am nächsten Morgen standen meine geliebte Frau und ich vormittags am Riesenrad zwischen den Touristen in der Warteschlange (Berliner kamen kaum, das Ding hatte eine schlechte Verkehrsanbindung, es gab keine Parkplätze und zu teuer war es obendrein) und warteten auf den heranfliegenden Prototypen. Das Wetter war wie am Vortag, kalt und windstill. Jedenfalls in Bodennähe.

Vor uns eine Schulklasse, hinter uns eine Gruppe Asiaten, vermutlich Koreaner, sechs an der Zahl. Die Schulklasse nimmt zwei Gondeln ein, wir entschließen uns, die Asiaten durchzuwinken, um eine Gondel für uns allein zu haben. Die Frauen unter den Asiaten kichern, vielleicht sind es keine Koreaner, sondern eher Japaner, aber sie gehen vor. Wir nehmen Platz und lassen die Tür schließen. Es folgen Sicherheitshinweise in mehreren Sprachen, schon das Deutsche ist kaum verständlich. Meine geliebte Frau rief Herrn Klaasen an.

„Guten Tag, Herr Klaasen! Wir sind in Position. Wissen Sie, wo das Schiffchen ist?“

„Wir nähern uns Kiros Arsch von Süd-Westen, wir sind eine kleine Schleife geflogen, wir überfliegen gerade den Innsbrucker Platz. Ich sehe das Rad bereits, ich übermittle die Bilder Herrn Lux auf das iTempt™.“

Ich schaute auf mein Display und nahm Verbindung auf. Für das kleine Display war die Auflösung mit 1.700 mal 1.200 Pixel hervorragend. Das Luftschiff steuerte ruhig in unsere Richtung mit einem kaum wahrnehmbaren Stampfen und leichtem seitlichen Rollen.

„Die Bilder kommen prima an“, sagte ich Herrn Klaasen über das Handy meiner geliebten Frau. Die Gondel drehte sich und blieb im Rhythmus der ein- und aussteigenden Gäste in den anderen Gondeln stehen. Mit Hilfe der übermittelten Bilder konnten wir erahnen, wo sich das Schiff befand, aber wir sahen es noch nicht. Unsere Gondel vollzog die erste volle Umdrehung und wir waren wieder unten und drehten uns weiter. Als wir uns wieder auf halber Höhe nach oben befanden, sahen wir das Schiff auf uns zufliegen. Es steuerte direkt auf uns zu, wurde aber von der Brise seitlich abgelenkt – ein Umstand, den Herr Klaasen durch ständige kleine Kursänderungen zu korrigieren versuchte. Als wir erneut den obersten Punkt des Riesenrades erreicht hatten, befand sich das Luftschiff in geschätzten 100 Metern Entfernung und verringerte die Fahrt. Auf unserem neuerlichen Weg abwärts positionierte sich das Schiff neben uns in etwa 20 Metern Entfernung und Herr Klaasen versuchte, unterstützt durch die Bilder, die wir beide im Display sahen, und durch die Anweisungen, die wir ihm per Telefon gaben, einen konstanten Abstand zu uns zu halten. Diese senkrechte Kreisbewegung, parallel zum Riesenrad, synchron mit unserer Gondel, war die Probe, auf die wir es heute abgesehen hatten. Herr Klaasen meldete sich erneut.

„Es ist nicht leicht, eine Kreisbewegung auf einer imaginären senkrechten Ebene blind zu fliegen. Die Kamera zeigt nach vorn und das Schiff ist parallel zur Riesenrad-Ebene ausgerichtet, ich kann mich kaum an dem Schatten des Rades orientieren.“

Herr Klaasen hatte es nicht geschafft, über Nacht die Kamera stufenlos schwenkbar zu konstruieren. Er hatte uns kleinlaut erklärt, die Probleme mit der Steuerung hätte er nicht beheben können, es fehlten irgendwelche Teile, die nicht über Nacht zu besorgen gewesen waren. Er schaute währenddessen wie ein geprügelter Hund. Das war schade, aber nicht zu ändern und auch nicht das Ende der Welt. Nicht in dieser Phase.

„Ja, ich sehe es. Die Bewegung ist etwas ruckelig“, sagte meine geliebte Frau.

„Da die Motoren fest eingebaut sind und die Steuerung allein über die Luftstrahldeflektoren erfolgen kann, muss ich mich seitlich gegen den Wind stemmen, das macht es nicht einfacher.“ In der Tat bildete die Längsachse des Schiffes einen Winkel zur Flugrichtung. Mit einer schwenkbaren Kamera wäre das nicht weiter schlimm gewesen: Wie das Schiff lag, wäre dann irrelevant, wenn bloß die Bilder die richtigen gewesen wären. So sah man eben nur nach vorn, aber das war selten der optimale Ausschnitt.

„Es wäre besser, wenn die Motoren in dreh- und schwenkbaren Gondeln montiert wären. Dann könnte man viel präziser steuern, selbst wenn wir auf die Seiten- und Höhenruder verzichten“, bemerkte ich.

„In der Tat. Und wenn die Kamera frei schwenkbar wäre, könnte ich zudem viel besser manövrieren. Aber das macht die Kontrolle der verschiedenen Elemente noch umständlicher. Ich glaube, ohne Computerunterstützung wird es kaum gehen.“

„Ja, ich sehe das genauso“, fügte meine geliebte Frau hinzu. „Wenn diese einfache Übung selbst bei diesen idealen Bedingungen nicht durchführbar ist, wird uns nichts anderes übrig bleiben.“

„Ich bin ein absoluter Anfänger, das dürfen Sie nicht vergessen.“

„Das war nicht als Vorwurf gemeint.“

„Ich weiß, es war auch keine Ausrede, sondern eine Erklärung.“ Am Telefon und ohne direkten Blickkontakt klang Herr Klaasen viel entspannter, geradezu souverän.

Wir sahen uns an und verfolgten weiter Herrn Klaasens Versuche, mit uns auf einer sich verändernden Höhe zu bleiben. Ich nahm das Luftschiff mit meiner Kamera auf, um die Bilder später mit den Aufnahmen des Schiffes vergleichen zu können. Das Schiff rollte jetzt weniger im Wind, in Bodennähe blies die Brise sanfter, aber es fiel Herrn Klaasen nicht leicht, die Seitenwinde und die gleichzeitige Auf- und Ab-, Vor- und Rückwärtsbewegung zu kontrollieren und mit der Bewegung der Gondel im Riesenrad zu synchronisieren.

Wieder auf dem Weg nach oben bemerkten die asiatischen Touristen in der Nachbargondel das Luftschiff und waren gleich hingerissen. Sie machten große Augen, ich konnte förmlich ihre „Oooohhh“s und „Aaaahhh“s in ihren Gesichtsausdrücken lesen. Die Kameras richteten sich auf das Schiff. Meine geliebte Frau und ich sahen uns an. Vielleicht war Kiros Arsch doch nicht der ideale Übungsplatz, schoss mir durch den Kopf und meine geliebte Frau lächelte zufrieden wie jemand, der einen Coup gelandet hat. Wer hatte recht? Andererseits: Was sollten sie schon mit den Bildern anrichten? Schlimmstenfalls ins Netz stellen; allerdings würde man nur einen vorläufigen Prototypen sehen, mit dem wir selbst nicht zufrieden waren, manövrierträge und ein wenig sperrig. Ich verdrängte meine Sorgen um Industriespionage (meine geliebte Frau freute sich immer noch über die Publicity) und versuchte, mich auf den eigentlichen Zweck dieser Übung zu konzentrieren.

„Herr Klaasen, wir fliegen seit dem Start nun schon über eine Stunde. Wie sieht es mit der Energiereserve aus?“

„Prima, Herr Lux. Das Schiff verbraucht nicht mehr Energie, als es von der Sonne aufnimmt. Die Akkukapazität ist laut Anzeige auf 95 Prozent, seit dem Start praktisch unverändert. Soll ich Ihnen die Daten übermitteln?“

„Nein, danke, nicht nötig. Wir untersuchen alles später in Ruhe im Labor, sobald wir und das Schiff zurück sind. Aber wenn wir genügend Energiereserven haben, würde ich gerne ein wenig Gas geben. Die Feinmotorik hat in der jetzigen Konstellation ihre Grenzen, soviel haben wir herausgefunden. Probieren wir die Ausdauer unter Vollbelastung aus. Umrunden wir im Abstand von etwa 200 Metern den obersten Punkt des Riesenrades mit Karacho, bis wir auf unter 50 Prozent der Akkuladung sind. Mal sehen, wie lange wir durchhalten.“

„Gern! Das ist auch viel leichter zu fliegen!“ Meine geliebte Frau und ich sahen uns an und lächelten. Wir hatten beide den Eindruck, Herr Klaasen klinge erleichtert, nicht mehr vorsichtig mit dem Gas und den Deflektoren fummeln zu müssen, was ihm vor allem bei der beinahe senkrechten Bewegung auf halber Höhe von Kiros Arsch nicht gut gelang. Das war verständlich: Die Motoren waren waagerecht ausgerichtet, selbst die stärkste Ablenkung des Luftstrahles konnte das Schiff schlecht unter kontrollierten Bedingungen senkrecht bewegen. Aber schnell in einem weiten Kreis zu fliegen, war etwas anderes und Herr Klaasen war nur zu gern bereit, es uns vorzuführen. Das Schiff gewann an Fahrt und drehte sich in einiger Entfernung um uns. Die asiatischen Touristen schauten enttäuscht aus der Wäsche, nun war das Schiff ein kleiner verschwommener Punkt auf ihren Displays, sie verloren das Interesse an den Aufnahmen und sie schauten sich bald wieder die Landschaft an.

In einer Entfernung von etwa 200 Metern beträgt der Umfang des Kreises ungefähr 1,2 km, bei einer Geschwindigkeit von 80 km/h entsprach das einer Umdrehung in der Minute. Das Schiff bewegte sich um uns mit derselben relativen Geschwindigkeit wie der Sekundenzeiger einer Uhr, von der Mitte der Uhr aus gesehen. Das Stampfen und Rollen ließen schlagartig nach, sobald die Motoren richtig Druck ausübten, das Schiff stabilisierte sich wie von selbst. Die Fliehkraft drückte die Gondel mit den Instrumenten und Akkus leicht nach außen, aber nach kurzer Zeit pendelten sich diese Kräfte ein und das Schiff blieb schräg, aber stabil. Die übermittelten Bilder zeigten Berlin in der rotierenden Panoramaperspektive in einer angenehmen, stetigen Bewegung, immer schön abwechselnd: der Zoologische Garten, der Tiergarten, der große Wasserkanal der TU Berlin, das Gebäude blau gestrichen, die dazu gehörigen Wasserleitungen in rosa, das Hauptgebäude der TU, der Hardenbergplatz, die Fasanenstraße, der Ku’damm, der Breitscheidplatz und das Ganze nochmal von vorn. Nach zehn weiteren Umdrehungen und ungefähr genauso vielen Minuten hatten wir genug Material gefilmt und stiegen aus der Gondel aus, aber das Schiff, ferngesteuert vom Herrn Klaasen, drehte sich weiter und nahm dieselbe Strecke wieder und wieder auf. Wir blieben in Verbindung. Währenddessen starrten einige der Asiaten immer noch in den Himmel und filmten mit kleinen, aber mächtigen Teleobjektiven. Wir taten so, als ob wir sie nicht bemerkten und nichts mit dem Schiff zu tun hätten, und gingen an ihnen vorbei in Richtung Tiergarten, unter den S-Bahn-Bögen am Zoo vorbei.

„Wie weit sind die Akkus?“

„Immer noch bei 90 Prozent, Frau Lux. Wenn die Sonne weiterhin so scheint, können wir weitermachen, bis es dunkel wird.“

„Geben Sie noch eine Dreiviertelstunde Vollgas und lenken Sie das Schiff anschließend in den Hangar. Wir kommen ungefähr gleichzeitig an und können uns die Daten dann genauer anschauen“, sagte meine geliebte Frau.

„Und ab sofort immer mit Volldampf!“, fügte ich überflüssigerweise hinzu.

Wir spazierten langsam weiter in Richtung Ernst-Reuter-Platz. Manchmal schauten wir in den Himmel über uns und sahen nach wie vor das Luftschiff kreisen.

„Wie es aussieht, scheint der Test ein Erfolg gewesen zu sein. Wir wissen, was wir jetzt zu tun haben.“ Ich weiß nicht, ob ich optimistisch klingen wollte, damit meine geliebte Frau meine Zweifel zerstreute oder um sie selber aufzumuntern. Klar war, dass wir viel Arbeit vor uns hatten.

„Wir müssen das Design grundlegend ändern. Die Struktur des Luftschiffes muss viel einfacher werden, die Mechanik hingegen viel komplexer“, erwiderte sie. „So leicht kommen wir nicht davon.“

“Wie meinst du das?“

„Diese filigrane Struktur ist viel zu aufwendig, dafür sind die Motor- und Kamerahalterungen starr und eigentlich unbrauchbar. Hast du gesehen, wie das Schiff sich seitlich winden musste, um gegen den Wind anzukommen, und es dennoch kaum geschafft hat, einen konstanten Abstand zu Kiros Arsch zu behalten? Die Kamera zeigte nicht dorthin, wo wir wollten. Was Herr Klaasen sah, war nicht das, was er hätte sehen sollen, um das Schiff richtig zu steuern, und die räumliche Ausrichtung des Schiffes hing mehr vom Wind ab als von der gewünschten Bewegung oder Richtung.“

„Ja, das stimmt. Aber wie sollen wir mehrere Motoren gleichzeitig kontrollieren, wenn sie sich alle räumlich unabhängig voneinander orientieren können, während jeder einzelne Motor eine andere Leistung ausübt und sich beide Parameter für alle Motoren stetig ändern können?“

„Das können wir so nicht steuern. Diese Aufgabe muss ein Computer übernehmen. Wir können nur die gewünschte Richtung eingeben, der Computer muss dann anhand der Daten, wie beispielsweise Winddruck, Neigung, Geschwindigkeit usw., berechnen, wie sich die verschiedenen Motoren auszurichten haben und mit welcher Kraft sie das Schiff antreiben müssen.“

„Das ist eine Aufgabe für dich, du Computerexpertin.“

„Vielleicht ist es gar nicht so schwer, wenn wir uns auf neuronale Netze stützen. Unsere Computer müssen lernen können.“

Am Ernst-Reuter-Platz angekommen, stiegen wir in die U-Bahn ein und machten uns auf den Weg in die Hallen, die gleichzeitig als Werkstatt und Hangar dienten.

„Hoffentlich nimmt Herr Klaasen die Kritik nicht krumm…“

 

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