XLVII. 99942 Apophis

Das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt.
Karl Krauss

Der Niedergang der Menschheit begann für mich, ungeachtet der Wirren in Rom, der Explosion des Kivu-Sees und ähnlicher sich häufender Tragödien, am Freitag, den 13. April 2029, als der Asteroid 99942 Apophis, ehemals bekannt als 2004 MN4, später in den ägyptischen Gott der Zerstörung umbenannt, zwischen Erde und Mond innerhalb des geostationären Orbits einen Durchgang vollbrachte.i Um diesen Durchgang in unter 30.000 km Entfernung war ziemlich viel Aufhebens gemacht worden – einerseits weil diese Entfernung im astronomischen Maßstab eine Winzigkeit darstellte, andererseits weil die Astronomen bereits Jahre vorab berechnet hatten, dass, sollte 99942 Apophis (oder einfach nur Apophis) durch ein ganz kleines, klar umrissenes imaginäres Fenster mit einem Durchmesser von kaum vierhundert Metern durchgehen, was zugegebenermaßen sehr unwahrscheinlich wäre, er beim nächsten relevanten Durchgang, im Jahre 2036, die Erde frontal treffen würde. Vierhundert Meter! Das ist kleiner, als die Internationale Raumstation einschließlich Sonnensegel misst, diese Treffsicherheit ist dermaßen unwahrscheinlich, das kann man kaum berechnen! Vermutlich aus demn Grund war dieses Ereignis für die Medien bereits im Voraus ein Fest, lohnender als eine totale Sonnenfinsternis in der 80. Minute eines WM-Finales: Da Apophis der Erde näher kommen würde als die Wetter- und Kommunikationssatelliten in 35.786 Kilometern Höhe, würde er sogar mit einer Magnitude oder scheinbaren Helligkeit von 3,3 unter idealen Sichtverhältnissen mit bloßem Auge gut zu sehen sein. Viele Städte im Fernen Osten und in den USA haben an diesem Abend ein mediales Mordsspektakel um Apophis gemacht und zum ersten Mal haben einige Einwohner ihre Lichter ausgeschaltet oder wenigsten gedimmt, um ohne Lichtverschmutzung eine bessere Sicht zu bekommen. Es gab Städte, in denen Feuerwehr und Polizei nicht zur Ruhe kamen, so viele Menschen riefen besorgt wegen der vielen Lichter am Himmel an. Das seien doch sicher Aliens, nicht wahr, die sich vermutlich hinter Apophis versteckt hatten, um unbemerkt in die Nähe der Erde zu gelangen, um uns jetzt zu erobern, oder? Die Feuerwehr und die Polizei mussten sehr viel Geduld aufbringen. Gut, dass sie für solche und ähnliche Situationen ausgebildet wurden.

Es stellte sich in der Folge heraus, dass Apophis das imaginäre Fenster erwartungsgemäß nicht getroffen hatte und demnach die Erde auch beim nächsten Durchgang nicht treffen sollte. Der angerichtete Schaden begrenzte sich auf drei zertrümmerte Wetter- und TV-Satelliten außer Dienst, die Apophis in deren geostationärem Orbit um die Erde bei seinem Durchgang zerschmetterte, was schon mehr als unwahrscheinlich genug war. Die Masse der Satelliten war im Vergleich zu Apophis geschätzter Masse von 7,5 x 1010 kg unbedeutend, reichte aber wegen der enormen relativen Geschwindigkeit des Asteroiden aus, um große Mengen Material aus diesem herauszuschleudern. Für die Zeugen des Vorfalls, Menschen mit Ferngläsern in klaren Nächten auf der sonnenabgewandten Seite der Welt, Wissenschaftler mit empfindlichen Instrumenten an verschiedenen Punkten der Erde, auf Beobachtungsflugzeugen und auf Beobachtungsstationen im Orbit, war es beeindruckend. Plasmawolken aus zertrümmertem Gestein von der Oberfläche Apophis’ und pulverisierte Satellitenfragmente schossen aus dem Asteroiden. Ein kleiner Teil davon fällt seitdem langsam auf die Erde, kaum bemerkbar unter den jährlichen Tonnen interplanetaren Staubes, die ständig auf uns niederrieseln. Der einzige Unterschied bestand darin, dass wir dieses Mal den Staub bei seiner Entstehung gesehen hatten und dass viele der Staubkörner größer waren, als sonst üblich. Seitdem gehen auf der Erde mehr Sternschnuppen als gewöhnlich nieder, aber ich fürchte, der Glaube, Sternschnuppen bringen Glück, hat sich gelegt. Schön sind sie trotzdem. Ein anderer Teil der Trümmer und des Staubes hat einen dünnen Ring um die Erde gebildet, dicht um den geostationären Bereich des Orbits, in dem die Trümmer entstanden sind, und beeinträchtigt seitdem geringfügig die Kommunikation zwischen den dort stationierten Satelliten und der Erde.

Obwohl der nahe Durchgang hochpräzise Messdaten geliefert hatte, die für die nächsten hundert Jahre und länger einen Zusammenstoß ausschlossen, dauerte es nicht lange, bis unzählige Gerüchte aufkamen, die alle auf dieselbe Vorhersage hinausliefen: Beim nächsten nahen Durchgang im Jahre 2036 würde Apophis, oder was davon übrig geblieben war, nach der Kollision mit den Satelliten und den großen Gezeitenkräften, denen Apophis durch Erde und Mond ausgesetzt wurde, die Erde sehr wohl treffen. Den offiziellen Dementis wurden nicht nachprüfbare Berechnungen und unzählige Fotos, Videos und Animationen entgegengesetzt, nahezu ohne Ausnahme von selbsternannten, unbekannten Experten ins Internet gestellt.

Ich kann den Augenblick nicht genau festlegen, aber die Stimmung kippte meiner Erinnerung und meinem Gefühl nach etwa zu diesem Zeitpunkt. Die Menschen kamen mir bedrückt, bekümmert und vor allem viel aggressiver vor als früher. Es hatte sich scheinbar nichts geändert, aber die Katastrophen folgten und es ging für alle rapide bergab. Diese Entwicklung sollte noch bis zum Ende andauern. Ein weiterer Mythos, im Internet gern kolportiert, lautete, dass aus Apophis neuartige Viren oder Bakterien auf die Erde niedergerieselt sind, gegen die die Menschheit nicht immun sei. Wir schauten, in dem neuen Luftschiff schwebend, von oben zu, zunächst bei den unumgänglichen Probeflügen von der unfertigen Maschine aus und gleichzeitig, wie immer, von den vielen Augen und Vendobionten weltweit, die uns ihre aufgenommenen Daten übermittelten. Meine geliebte Frau und ich machten uns Sorgen, ebenso wie viele andere, wir konnten den Tag der Fertigstellung der neuen Luftjacht kaum erwarten. Endlich tauften wir das neue Schiff Hyperborea und flogen mit einer Rumpfmannschaft davon. Wir kamen nicht zurück. Ich erzähle später, was passiert ist.

Frau Merryodd hätte ihre Luftjacht lieber Vogue getauft. Eigentlich ein guter Name, hätte man der dummen Nuss kaum zugetraut. Vermutlich wählte sie ihn aus den falschen Gründen; ich bezweifle, dass sie Französisch gut genug verstand, um die vielen Assotiationen, die einem bei dem Wort Vogue durch den Kopf gehen, nachvollziehen zu können. Nichtdestoweniger schien mir in Anbetracht der Krise, die auf uns zuraste, der Name Hyperborea richtiger. Wir wollten mir der Hyperborea die Grenzen unter uns lassen. Wir sollten uns lieber beeilen, die Lage wurde nicht besser.

i Vgl. Geoff Andersen, „The Telescope. Its History, Technology and Future.” Princeton University Press, Princeton and Oxford, 2007, S. 199.

 

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