XV. Auge Nr. 1

Schon zehn Tage später war das erste neue Modell fertig – und was für ein Modell! Genau, wie ich es mir gewünscht hatte: zwei Halbkugeln, dazwischen ein Zylinder, darunter die Gondel.

Innerhalb des kleinen Luftschiffes die kreisrunden Fotozellen, kardanisch gelagert, so dass sie sich immer nach der Sonne ausrichten konnten, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen. Wir entschieden uns dafür, Fotozellen aus CIGS (Copper-Indium-Gallium-Seleniden) zu kaufen.i Das ermöglichte es, mit einer außerordentlich dünnen Schicht sehr gute Leistungen zu erzielen. Wir befestigen diese dünnen, sehr fragilen Zellen auf zwei kreisrunden Substraten aus einfachem Styropor. Das wog so gut wie nichts und gab den Zellen die nötige Stabilität. Zwischen der CIGS-Fotozelle und dem Styropor dampften wir einen mikrometerdünnen Film Aluminium auf, um das Sonnenlicht, das wirkungslos durch die Zelle hindurchgegangen war, durch Reflexion erneut von hinten auf die Zelle zurückzuschicken. Diese Methode war billig, einfach und effektiv – die Leistung der Fotozellen verbessert sich um über 28 Prozent, von kaum 30 Prozent Stromausbeute im Verhältnis zur einfallenden Lichtenergie auf fast 39 Prozent. Dieses Resultat war ausgezeichnet für die dünnen, leichten Zellen. Nach einigen Monaten verbesserten wir das Ergebnis noch einmal, indem wir die Dünnschicht selber mit Nanopartikeln aus Silber dopten. Man brauchte davon nicht viele, aber ihre Wirkung war groß: Sie streuten das Licht, das ursprünglich senkrecht auf die Zelle fiel, quer durch die Zelle, womit die Wahrscheinlichkeit, dass die Photonen mit der Halbleiterlegierung reagieren konnten, bevor sie die Dünnschicht durchquert hatten, sprunghaft anstieg. Die Physiker nannten diese gestreute Strahlung „oberflächliche Plasmaschwingungsquanten“, was beeindruckend klingt, oder einfach „Plasmonen“, was nicht viel mehr bedeutet und gar nichts erklärt, wenn man nicht schon weiß, worum es sich handelt. Jedenfalls stieg damit erneut der Wirkungsgrad der Fotozellen.

Herr Klaasen hatte aber nicht nur ein Modell der Luftschiffchen gebaut, sondern derer gleich zwei. Eines mit einem Durchmesser von zwei und einer Länge von vier Metern, mit zwei Motoren auf jeder Seite, eines mit einem Durchmesser von drei und einer Länge von sechs Metern, mit vier Motoren auf jeder Seite – zwei in einer Reihe oben, zwei in einer Reihe unten. In der Gondel fanden sich die Steuereinheit, das Funkgerät, die Akkumulatoren und die Kamera. Über der Gondel, in dem Bereich, der von den Fotozellen in ihren kardanischen Rotationsbewegungen nicht erreicht wird, aber innerhalb der Trägergashülle, eine Reinterpretation der Ballonetts. Ballonetts dienten als Mittel, um bei Prallluftschiffen den inneren Druck aufrechtzuerhalten: Sie sind aufblasbaren Luftballons ähnlich. Wenn bei einem Prallluftschiff Trägergas entweicht oder wenn dieses erkaltet und an Volumen verliert, was nachts oft der Fall ist, kann man den inneren Druck wiederherstellen, indem man innerhalb des Schiffes einen Luftballon mit Außenluft aufbläst. Dadurch wird das Trägergas komprimiert und sein Druck entsprechend erhöht; das ermöglicht es, die Form des Prallluftschiffes aufrechtzuerhalten. Dieses Prinzip machten wir uns zunutze, obwohl das neue Modell eine starre äußere Struktur besaß. Unsere inneren Luftballons indes waren besondere Ballonetts: Sie dehnten sich immer weniger zusätzlich auf, je mehr man sie aufblies. Somit stieg der Druck innerhalb der Ballonetts während des Aufblasens stets an, ebenso ihr Gewicht. Wenn wir sie mit zehn Litern Luft füllten, nahm ihr Volumen um fünf Liter und ihr Gewicht um zehn Gramm zu, die nächsten zehn Liter verursachten aber nur noch eine Volumenzunahme von vier Litern (und weiteren zehn Gramm), also insgesamt neun Liter, die nächsten zehn nur noch dreieinhalb Liter, macht inzwischen 12,5 Liter (und wieder zehn Gramm), und so weiter, unter stetig steigendem Druck. Folglich verfügten wir über ein Mittel, mit dem wir den überschüssigen Strom als Druckluft speichern konnten, und hatten gleichermaßen einen Weg gefunden, in der Luft Ballast zu tanken. Das war eine der besten Ideen, die Herr Klaasen bisher hatte. Wir komprimierten die Außenluft mittels Scrollverdichtern, einfache und robuste Geräte, die schmier- und wartungsfrei arbeiten und sich sehr weit verkleinern lassen. Ferner nahmen wir uns die Pläne eines Automobilkonzerns zum Vorbild, der diese Kompressoren vor Jahren zur Steigerung der Motorleistung benutzt hatte (Herr Klaasen war passenderweise auch, was seinen Geschmack für Autos anging, altmodisch und liebte Oldtimer, selbst die von dieser Firma, insbesondere die alten Kleinbusse). Wir fanden den damaligen Zulieferer heraus und er war zu einer Kooperation bereit. Er baute nach wie vor Scrollverdichter, mittlerweile vorwiegend für die Medizintechnik, wo sie sehr geschätzt werden, weil sie Druckluft ohne Schmiermittelrückstände erzeugen. Wir sollten im Laufe der Jahre noch viele Scrollverdichter bestellen, in vielen Größen und Leistungsstufen, die ersten erhielten wir nach einer Woche. Beim Ablassen der Druckluft fungierten die Scrollverdichter als Dynamos und erzeugten Strom. Elementar.

Die neuen Luftschiffmodelle, die wir – wie geplant – Augen tauften, verfügten demnach über zwei unabhängige Energiespeicher, die Akkus und die Ballonetts und man konnte mit geringen Verlusten Energie von einem Träger in den anderen überführen. Mit dem Akkustrom ließen sich die Ballonetts füllen, mit dem aus den Ballonetts gewonnenen Strom konnten wir die Akkus laden, in diesem Fall dienten die Scrollverdichter als von der Druckluft angetriebene Dynamos. Das ermöglichte eine sehr effektive Art der Gewichtskontrolle, die wir fortan bei allen weiteren Modellen beibehielten. Um das Gewicht und den inneren Druck der Augen voneinander ganz unabhängig und dennoch regulierbar zu halten, installierten wir zwei Ballonetts pro Auge, eins im Inneren der Trägergashülle, eins außerhalb in der Gondel. Die inneren Ballonetts bliesen sich, wie beschrieben, bei zunehmender Füllung und Druck immer weniger auf, die äußeren überhaupt nicht: Bei ihnen handelte es sich um einfache starre Druckbehälter. Somit waren es streng genommen gar keine Ballonetts, denn sie veränderten weder ihr Volumen, noch hatten sie den geringsten Einfluss auf den Trägergasdruck im Inneren des Luftschiffes – aber wir nannten sie trotzdem so. Stattdessen waren sie sehr einfach herzustellen und ihr Eigengewicht gering. Das ist wichtig. Beim Luftschiffbau kommt man sich wie eine pubertierende Magersüchtige vor: Gewicht wird zur Obsession.

i Handelsblatt 16.08.2008.

 

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