XVIII. Geld

Anyone who believes exponential growth can go on forever in a finite world is either a madman or an economist.i
Kenneth Ewar Boulding (1910 – 1993)
Wirtschaftswissenschaftler

Der wirtschaftliche Durchbruch, mit dem die weiteren Pläne endgültig finanzierbar wurden, kam später: Wir gaben die Kameras gegen eine geringe Pauschalgebühr von 100 Talern pro Jahr für den privaten Gebrauch frei und kassierten seither Prozente von den Einnahmen, die die Erstkunden mit den Bildern erzielten, wenn sie diese gewerblich nutzten. Die Kunden (zuweilen nannten wir sie Mieter) bereichern die Bilder mit eigenen Zusätzen. Manche wählen das, was Leute ihrer Meinung nach sehen wollen, andere werben für das, was sie den Zuschauern zeigen wollen, und wenn sie diesen Inhalt über ihre Webseiten exklusiv zeigen können (ein Recht, das wir versteigern), versuchen sie, Menschen dazu zu bringen, für ihre Idee zu stimmen und auch noch dafür zu bezahlen. Damit haben wir automatisch eine optimale „Ressource Allocation“ im Sinne der Wirtschaftswissenschaft: Wir kriegen mit der Versteigerung das Maximale, das sich für die Summe der potentiellen Kunden lohnt auszugeben, und sie kriegen eine knappe Ressource, in diesem Fall die zunächst begrenzte Anzahl von Augen, nur, wenn es sich wirtschaftlich lohnt oder sie bereit sind, die Verluste zu tragen (was zeitweilig der Fall war bei Reli-Telly, die übertrugen allerlei Erbauliches aus dem Heiligen Land. Für den Fall, dass Sie, werter Leser, von diesem Sender noch nie gehört haben sollten: Sie waren Pioniere des iReality-TV, das moralin-saure Fernsehformat, welches über das, was es nicht gibt, von dort aus, wo der Sender nicht präsent war mit einem Kommentator, der keine Ahnung hatte, wovon er redete, berichtete.) Andere wollen keine Exklusivität für ihre Bilder, verdienen aber so viel mit ihren Kommentaren, dass es sich lohnt, die Einnahmen mit uns zu teilen. Manche Kommentatoren hatten phantastische Stimmen, andere trugen fesselnde Beiträge vor. Wieder andere bestachen durch ihre Flugkunst, sie beherrschten die Augen souverän – die nannte Sven Maven „echte Segler“. Diesen Naturtalenten überließen ganze Gruppen die Kontrolle, das war in engen Situationen besser, das konnte sich bis ins Virtuose steigern. Solche Flugkünste waren Gold wert – sie gaben uns einerseits Umsatz, andererseits Daten von unschätzbarem Wert für unsere rechnergesteuerte Fluganalyse, die wir zu immer besseren und intelligenteren Autopilotsteuerungen zu entwickeln hofften. Wir hatten dabei ebenso mein übergeordnetes, wenngleich noch nicht in greifbare Nähe gerücktes Ziel größerer Schiffe im Auge. Wenn sich solche Flugtalente mit einem guten Stimmentalent in einem Team mit einer guten Idee zusammentaten, wurde es zum Hit – ein Erfolg gleichermaßen für das Team und für uns. Es entstand Kult, manchmal, wieder und wieder. Und unsere Augen flogen zusehends besser.

Unser Rohmaterial ist – wie gesagt – für eine kleine Gebühr von nur 100 Talern pro Jahr frei zugänglich, ohne Kommentare, auf die man aber problemlos im Internet zulinken konnte; viele kommentierten ohne unsere eigenen Tools gern freiwillig und umsonst nur die nackten Bilder mit Ton (der Ton taugt allerdings nicht viel, das muss man zugeben: Man hört den Wind und manchmal die Motoren) mit Ausnahme der bereits versteigerten Exklusivrechte. Die Probezeit von drei Monaten ist kostenlos, sofern das Material ausschließlich privat genutzt wird (die Betrugsrate war zu vernachlässigen und wir fanden auch Jahre später keine Karteileichen, die älter als 12 Monate waren. Ich glaube, das lag unter anderem daran, dass wir es geschafft hatten, ein not evil-Image aufzubauen. Wir waren so open source, dass es nicht chic war, uns zu cyberattackieren. Später allerdings wurden wir von Radikalen missbraucht, was wir jedoch merkten und meldeten. Das hatte sogar eine kurze und heftige Kampagne der USA gegen Terroristen zur Folge und uns ihr – der USA, nicht der Terroristen – Wohlwollen beschert. Dieses Wohlwollen war später, als die Welt unterging, sehr nützlich, aber zum Glück drang es nicht an die Öffentlichkeit, von wegen not evil. Ich greife vor: Bis jetzt befinden wir uns in der Probephase). Wenn die Zuschauer bei jemandem abonniert waren, der seine Rohdaten von uns bezog, hatten sie automatisch zu allen anderen nicht-exklusiven Rohdaten unseres Dienstes Zugang. Unsere Kunden bekamen also das gesamte verfügbare Material mit Ausnahme natürlich der Daten, die wir meistbietend versteigert hatten; dafür erhielten die Gewinner der Auktion logischerweise ein Exklusivrecht, das sie dann weiter verteilen (daran verdienten wir genauso mit) oder für sich behalten konnten, für welche Zwecke auch immer. Wenn dieser Zuschauer dann zum Sender wurde, indem er besagte Daten verarbeitete und weiterverkaufte, verdienten wiederum wir prozentual mit daran, ebenso wie der erste Kunde. Auf diese Art und Weise wurde der Zuschauer, der bezahlen musste, zum Anbieter, der bezahlt wurde, wenn er mit uns teilte. Jeder Zuschauer hatte somit ein Anreiz, uns Kunden zuzuspielen, uns bekannter zu machen, und diesen neuen Kunden ging es ebenso. Wie lange konnte unser Wachstum exponentiell bleiben? Bald würden die Zahlen astronomische Dimensionen erreichen, das konnte nicht mehr ewig fortgesetzt werden. Andererseits, bei den bereits im zweiten Jahr erreichten Einnahmen brauchten wir nicht mehr zu wachsen und wuchsen dennoch.

Anfangs waren wir kaum bekannt und hatten keine offizielle Erlaubnis, die überwiegende Mehrzahl der Länder der Welt zu überfliegen. Wir boten unseren Service durch unsere Webseite an, aber wir erklärten nicht, was wir alles durften, und erst recht nicht, was wir alles nicht durften. Es gab nur wenige User und die meisten waren obendrein umsonst dabei: unsere späteren Multiplikatoren, Journalisten, Rechtehändler und -wiederverkäufer usw. Anfangs boten wir die Bilder so an, wie wir sie aufnahmen, ohne die später geplante Möglichkeit, auf die Auswahl der Motive Einfluss zu nehmen, zu erwähnen.

Eines durften wir aber auf jeden Fall von Anfang an und ohne Einschränkung: über offenes Meer jenseits der sogenannten Zwölf-Meilen-Zone fliegen. Ich hatte vor, die ersten Abstimmungsergebnisse derart zu manipulieren, dass wir auf angeblichen Wunsch unserer Kunden das Interessanteste zeigen sollten, das es auf dem Meer zu sehen gibt. Meiner Meinung nach können das nur Blauwale sein (Industriemogule meinen vielleicht, es wären die Schiffe der Konkurrenz und ihr Aufenthaltsort. Gerade derlei Interessenkonflikte wollte ich am Anfang um jeden Preis vermeiden oder wir würden keine Erlaubnis bekommen, weite Gebiete der Welt zu überfliegen). Blauwale sind groß, sympathisch, zunehmend vom Aussterben bedroht und trotz des Interesses, das sie erwecken, rätselhaft und wenig bekannt. Bis heute weiß man nicht, wo sie sich paaren oder wie lange die Mütter mit ihren Kälbern zusammenbleiben. Blauwale sind groß genug, um sie aus der Distanz filmen zu können, und langsam genug, um sie gut verfolgen zu können, selbst nach einem längeren Tauchgang oder nachts, was bei unserer geringen Erfahrung mit den neu entwickelten Augen nur von Vorteil für uns sein konnte. Im Gegensatz zu Fischen müssen Blauwale, wie alle Wale, regelmäßig an die Wasseroberfläche zum Atmen, deshalb sieht man sie ohne große Schwierigkeiten von der Luft aus. Blauwale sind wie geschaffen für unsere Luftaufnahmen.

Darüber hinaus hatte ich ein persönliches Interesse an Meeressäugern und da Blauwale die größten überhaupt sind, sollten also Blauwale übertragen werden. Zunächst mussten wir nur einen finden und das gestaltete sich gar nicht so einfach, wie man bei einem so großen Tier meinen sollte. Solange wir keinen Wal gesichtet hatten, wollte ich nicht das Bieterverfahren für die ersten Bilder eröffnen. Das gab uns mehr Zeit, weitere Augen zu fertigen. Wenn die Suche lange genug dauern sollte, könnten mit immer mehr Augenzunehmend unterschiedliche Wünsche erfüllt werden. Erst ab einer größeren Auswahl würde es sich lohnen, die verschiedenen Motive, die die Augen aufnehmen sollten, meistbietend zu versteigern.

Während der Suche nach dem Blauwal haben wir gelernt, das Schiff zu manövrieren, die Sendeleistung für die Übertragungen einzustellen, mit den Übertragungsantennen auf die Satelliten zu zielen, die Batterien zu schonen, sie nachts zu nutzen, tagsüber aufzuladen und die Ballonetts auszutarieren. Bald wurde klar, dass Satelliten nicht die optimale Lösung für die Kommunikation waren: Wir würden Relais-Stationen in der Nähe desAuges brauchen, bestenfalls ein zweites Luftschiff, höher, nur zu diesem Zweck, denn die Sendeleistung, die nötig war, um mit Satelliten zu kommunizieren, verbrauchte viel Strom. Die Steuerbefehle aus der Zentrale nahmen überdies zu viel Zeit in Anspruch – mitunter dauerte es mehrere Sekunden, bis die Reaktion des Auges in der Zentrale zu sehen war – und wenn man einen Befehl korrigierte, wurde die Korrektur zu spät eingeleitet und wurde noch später für uns tatsächlich sichtbar. Bei ruhiger Fahrt war das alles zu verkraften; einzig wenn es hektisch wurde, war es ein Problem. Alles nur, weil die Satelliten so weit entfernt sind. Ein Relaisschiff in 15 bis 20 Kilometern Höhe würde die meisten dieser Probleme lösen; eine bessere, automatischere, intelligentere Steuerung würde einen Großteil der restlichen Probleme erledigen.

„Die Steuerung programmiere ich nach und nach, das geht mit einem lernfähigen neuronalen Netzwerk beinahe von allein, wenn wir genug Daten aus dem realen Flugverkehr haben“, sagte mir meine geliebte Frau. „Die Relaisschiffe sind ein neuer Kostenfaktor.“

„Technisch sehe ich sie bereits vor mir. Sie werden eine prima Übung für die größeren Schiffe darstellen. Die können wir nicht nach dem Muster der Augen bauen, die sind nicht skalierbar genug. Sehen wir das Positive: Wir können einen großen Teil der Komplexität der Augen auf die Relaisschiffe übertragen und selbige gleichzeitig nutzen, um die echten Schiffe vorzubereiten.“

„Das hat dennoch unvorhergesehene Kosten zur Folge.“

„Ich gehe mit dem Hund eine Runde Gassi…“

„Haben wir schon den ersten Blauwal?“

„Nur Delfine, kleinere Wale und Pottwale.“

„Wir Frauen mögen Delfine…“

„Die sind so schnell, da machen die Energiereserven der beiden Augen nicht lange mit.“

„Es heißt, es gibt wieder 3.000 Blauwale.“

„Das Meer ist groß, wir haben erst zwei Augen, vier weitere sind im Bau, jedes ein bisschen anders; mal sehen, noch sind sie verbesserungsbedürftig. Wir müssen weiter arbeiten.“ Ich stand auf und rief den Hund mit einem Zungenschnalzen. Foc, eine junge Irish Setter-Hündin, kam schwanzwedelnd. Beim Spazieren mit dem Hund kann ich gut nachdenken und Foc freut sich, Gassi geführt zu werden. Etwas Bewegung schadet mir auch nicht. Wenn ich gereizt bin, lasse ich Foc immer wieder hinter einem Tennisball herlaufen, bis wir beide, ich vom Werfen und sie vom Rennen, erschöpft sind. Das finde ich sehr entspannend.

Meine geliebte Frau bleibt mit den beiden Katzen daheim und schaut sich die von den beiden Augen übertragenen Bilder auf der bis jetzt vergeblichen Suche nach Blauwalen an. In der Firma steuert Sven Maven die beiden Augen, Nicco wird ihn in vier Stunden ablösen, dann sind meine geliebte Frau und ich wieder dran. Wir brauchen mehr Personal. Wir brauchen mehr Schiffe. Wir brauchen die Genehmigung, über Land fliegen zu dürfen. Wir brauchen Relaisschiffe. Und vor allem brauchen wir Einnahmen. Die Bilder sind schon schön, aber damit locken wir niemanden aus der Reserve. Wir sollten langsam einen Blauwal finden.

i Jeder, der der Auffassung ist, exponentielles Wachstum könne in einer endlichen Welt unendlich fortgesetzt werden, ist entweder verrückt oder ein Ökonom.
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