XXXIV. Beata…

I am the child in Uganda, all skin and bones,
my legs as thin as bamboo sticks,
and I am the arms merchant, selling deadly
weapons to Uganda.

I am the 12-year-old girl, refugee
on a small boat,
who throws herself into the ocean after
being raped by a sea pirate,
and I am the pirate, my heart not yet capable
of seeing and loving.i

Thich Nhat Hanh
Earth Prayers – Call Me By My True Names

ARABIS war kein einzelnes, verängstigtes Kind in einem gutbürgerlichen Vorort einer norditalienischen Küstenstadt, ARABIS war eine große, dezentrale, subversive Organisation mit chaotischen, widersprüchlichen Zügen. Um diese naturgemäß geheimniskrämerische Organisation gab es einen Dunstkreis von Sympathisanten, Unterstützern und Anhängern, die alle mehr oder weniger unabhängig voneinander operierten. Ich klassifizierte den Genueser Jungen trotz seiner Aktivitäten im Geiste eher als Sympathisanten und weniger als Anhänger. Natürlich besaßen die Anhänger und die Unterstützer kein Parteibuch, das ist bei einer in den meisten Staaten verbotenen Organisation ausgeschlossen. Aber sie unterschieden sich dadurch, dass sie einen anderen modus operandi hatten als der fragliche Junge (ich nehme an, dass es sich um einen Jungen handelt). Für gewöhnlich nutzten sie das Netz, um Informationen zu verbreiten und auszutauschen und um die aufgedeckten Missstände der Presse mitzuteilen, nicht, um die in ihren Augen diskreditierten, korrupten und ineffektiven Autoritäten zu informieren.

Es gab sehr viele Seiten im Netz, auf denen sich Sympathisanten informierten und indoktrinieren ließen. Zu denunzierende Missstände gab es genug: Dass der Mensch nicht freundlich zu seiner Umwelt ist, ist sattsam bekannt. Die von uns Menschen verursachten Probleme sind so schwerwiegend und disparat, dass man im Laufe der Zeit verschiedene Modewellen verfolgen kann, in denen sich die gerade aktuellen Themen abwechseln, aber an Themen mangelt es nie. Leider bedeutet das Verschwinden eines Themas aus dem öffentlichen Diskurs nicht, dass das zugrunde liegende Problem gelöst worden ist, sondern nur, dass eine neue Sau durch das Dorf getrieben wird. Einige Themen bleiben konstant im Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit: Atomkraft und atomare Endlager, Wale (sehr zu meiner Freude), Pestizidrückstände (ein Thema, das besonders bei jungen Müttern im Westen hoch im Kurs stand), Klimawandel, Artensterben…– alles wichtige Themen, keine Frage, und alle fanden sich in den ARABIS -affinen Foren wieder. Hinzu kamen im Laufe der Zeit andere, sich wandelnde Themen. So hatte sich in den letzten Jahren die Lage in den kenianischen Nationalparks allgemein, insbesondere jedoch im kenianischen Hochland, auch Hochland von Abessinien genannt, zu einem dieser Themen entwickelt.

Das kenianische Hochland verkörpert eine entlegene Gegend von wilder, kaum zu überbietender Schönheit. Vielleicht liegt diese Schönheit in unseren Augen: Die Menschheit hat sich in dieser und aus dieser Gegend heraus entwickelt, das mag unser ästhetisches Empfinden geprägt haben. Sogar die Quelle des Blauen Nils, in Äthiopien Abbai genannt, wird von der eingeborenen Bevölkerung mit dem Fluss Gihon gleichgesetzt, einem der Flüsse, die der Überlieferung nach aus dem biblischen Paradies flossen. Diese These mag stimmen oder nicht (ich persönlich glaube nicht im Geringsten an den ganzen Quatsch in der Bibel, nur so am Rande), Tatsache ist aber, dass der Blaue Nil in den ersten Abschnitten, nachdem er aus dem Tanasee entspringt, ein Gebiet bewässert, das auf der Welt seinesgleichen sucht. Dreißig Kilometer flussabwärts, vom Tanasee aus gemessen, fließt der Blaue Nil vierhundert Kilometer lang durch enge Schluchten, die denen des berühmteren Colorado River in den USA in nichts nachstehen. Die Schluchten sind bis zu 1.500 Meter tief (oder hoch, wenn man von unten schaut, wo kaum ein Mensch je hinkommt) und für Menschen geradezu unpassierbar. Nach nur zehn Kilometern in den Schluchten stürzen sich die Wassermassen, die in der lokalen Sprache als „Tis Issat“ bekannten Wasserfälle, über vierzig Meter in die Tiefe. Ein davorgebauter Staudamm reguliert die durchfließende Wassermenge seit Jahrzehnten, bis dahin waren die saisonalen Schwankungen der Wassermenge beachtlich.ii

Der Blaue Nil ist mitnichten der einzige Nationalpark Kenias: Es gibt insgesamt zwanzig Nationalparks, zehn Nationalreserven und sieben geschützte Meeresnaturreserven, manche davon sehr weitläufig. Von ihnen mag der Aberdare Nationalpark der interessanteste sein. Auf jeden Fall wurden dorthin viele Augen von unseren Abonnenten bestellt und zusätzlich ein Dutzend von ARABIS gekapert. In ihren Foren gaben sie an, die schwarzen Nashörner schützen zu wollen. Die letzten Nashörner, die in ihrem ursprünglichen Lebensraum ausharrten. Vielleicht an die fünfzig, kaum mehr. ARABIS hielt Ausschau nach Wilderern, aber wenn sie welche entdeckten, denunzierten sie diese nicht an die Autoritäten, sondern an einen lokalen Ableger, der sie umbrachte. Mit der Luftaufklärung, die unsere Augen boten, war das machbar. Diese Praxis stürzte uns in ein Dilemma, denn einerseits wollte ich mich nicht des Mordes mitschuldig machen. Auf der anderen Seite jedoch wollte ich den Wilderern das Handwerk legen und auf die lokalen Staatsmächte konnte man sich nicht verlassen, das sah ich ein.

Und auf keinen Fall durfte durchsickern, dass die Morde, die begangen wurden, durch unsere Augen ermöglicht wurden. Es gab schon genug Menschen, die aufgrund unserer Kameras Datenschutzbedenken hatten. Mir kam eine Idee. Meine geliebte Frau und ich bestellten Beata zu uns und wir stellten uns dumm.

Sie klopfte an der Tür.

„Herein!“, sagte meine geliebte Frau. Wir hatten abgesprochen, dass sie reden würde, ich nur zuhören sollte.

„Ihr wolltet mich sprechen?“ Mann!, dachte ich, jetzt duzt uns eine Mörderin und Terroristin! Ja, es war besser, wenn meine geliebte Frau redete, sie hatte sich besser unter Kontrolle.

„Ja, Beata, komm rein!“ Beata setzte sich zu uns an den Tisch, wir boten ihr Tee an.

„Geht es um etwas Bestimmtes?“

„Ja, wir haben ein Problem und da du gute Kontakte zu Naturschutzorganisationen hast, wollten wir deinen Rat haben.“

„Hoffentlich kann ich helfen.“

Meine geliebte Frau rückte einen Monitor zurecht und wies mit der Hand darauf.

„Wir haben ein Problem in Kenia: Manche unserer Kunden haben offenbar Wilderer entdeckt, die schwarze Nashörner jagen, aber sie melden es nicht den Behörden. Wir wären dir dankbar, wenn du dich darum kümmern könntest.“

Meine geliebte Frau schaute auf den Monitor, ich tat so, als ob ich einige Unterlagen sortieren würde; wir wollten damit vermeiden, dass Beata sich beobachtet fühlte. Eine kleine Kamera zeichnete alles auf, wir würden später sehen, wie sie unruhig zuckte und ihren Mund mit der Hand bedeckte. Sie fasste sich schnell. Wir lächelten sie freundlich an. Jetzt war ich gespannt: Wenn sie sich dumm genug verhielt, würde sie versuchen, die Morde zu rechtfertigen und uns mit hineinzuziehen. Aber so dumm war sie zum Glück nicht.

„Das ist ja furchtbar! Mit unseren Augen?“

„Nein, sie jagen sie nicht mit unseren Augen, wir haben es nur mit den Augen entdeckt. Wenn du dich darum kümmern könntest, dass die Behörden dem Treiben einen Riegel vorschieben, wäre das Problem gelöst. Auf keinen Fall wollen wir den Eindruck vermitteln, dass wir diese Wilderer decken. Unsere Kundschaft wäre nicht begeistert, wenn sie davon erfährt, deswegen setzen wir auf jemanden wie dich. Du weißt ja, wie naturverbunden unsere User sind. Wir vertrauen auf deine Diskretion.“ Jetzt hatten wir sie in der Zwickmühle. Wenn nichts geschah, war sie verantwortlich. Sie musste es stoppen. Hoffte ich.

„Meine Freunde vom Naturschutzbund haben Kontakte in Kenia, ich kann mich mit denen in Verbindung setzten.“

„Das wäre großartig, wir bedanken uns sehr.“

Damit war die Unterhaltung beendet. Die Angelegenheit nicht. Sie verlies den Raum, meine geliebte Frau und ich schauten uns an, als sie die Tür hinter sich schloss. Ich war wütend und versuchte mühsam, meine Contenance zu wahren.

„Die bilden sich ein, das Recht zu haben, Menschen umzubringen, weil die Tiere nicht so lieben wie sie!“

„Schhhh!“ Meine geliebte Frau hielt sich den Zeigefinger an die Lippen. „Wir haben sie gefilmt“, sagte sie sehr leise, „So können wir später ihre Reaktionen besser analysieren. Aber wer sagt dir, dass sie ihrerseits diesen Raum nicht verwanzt hat?“

Meine geliebte Frau hatte recht. Wir riefen den Sicherheitschef und gaben die Anweisung, unser Büro gründlich auf elektronische Abhörgeräte hin zu untersuchen. Wir gingen nach Hause. Erst im Auto redeten wir wieder.

„Du hast vollkommen recht! Beata, oder wer auch immer hinter ihr steht, darf sich nicht als Richterin über Gut und Böse erheben. Aber solange wir nicht wissen, wie weit das System wirklich unterminiert ist, sollten wir so tun, als ob wir nichts gemerkt hätten. Ich will die Sicherheitslücke endgültig schließen, bevor sie neue Zugangswege einbauen kann, die wir dann vielleicht nicht finden. Jetzt sind wir im Vorteil, später eventuell nicht mehr.“

Ich war sauer, fuhr stur vor mich hin und schwieg. Zuhause angekommen, führte ich Foc zu einem langen Spaziergang aus. Ich wollte nachdenken. Spontan hätte ich nach Rache und Vergeltung getrachtet, es würde mir gut tun, nicht spontan zu reagieren. Das war etwas, was ich von meiner lieben Frau lernen sollte – Besonnenheit. Im Park angekommen, tobte ich mich aus, indem ich den Hund einem Stock hinterherlaufen ließ. Foc apportierte ihn immer wieder, zum Glück. Er ist ein braver Hund, er hört auf meine Befehle. Sonst hätte ich den Stock selber holen müssen, da hört der Spaß auf. Im Anschluss an den Spaziergang fühlte ich mich besser.

i „Ich bin das Kind in Uganda, nur Haut und Knochen, / meine Beinchen sind dünn wie Bambusstöcke, / und ich bin der Waffenhändler, der tödliche / Waffen nach Uganda verkauft. Ich bin das 12-jährige Flüchtlingskind / auf einem kleinen Boot, / welches sich ins Meer stürzt, / nachdem es von einem Seeräuber vergewaltigt wurde, / und ich bin dieser Seeräuber, dessen Herz noch nicht / in der Lage ist, zu sehen und zu lieben.“
ii Vgl. Alan Weisman, „The World Without Us“, Thomas Dunne Books, New York, 2007, S. 71-75.
 
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