LIX. Meine Macht

Il passa par-dessus des tas de morts et de mourants, et gagna d’abord un village voisin; il était en cendres: c’était un village abare que les Bulgares avaient brûlé, selon les lois du droit publique.i

Voltaire (Candide)

Ich glaubte jetzt, die Bedeutung meiner Macht zu verstehen. Wo andere die Macht gehabt hatten, umbringen zu lassen, eigenhändig umzubringen vielleicht sogar durch Worte, Gedanken, Taten und vor allem durch Unterlassung, die schäbigste Macht, hatte ich nun die Macht, zu protokollieren. Meine geliebte Frau und ich überflogen mit unserer Augen in Zeitlupe die Katastrophe und bereiteten unsere eigene Flucht vor. Wir hatten gesehen, wie fremde Mächte sich entfalteten und sie waren zerstörerisch und übel. Wir zogen uns zurück. Auch eine Unterlassung? Mir kam es nicht so vor, aber meine geliebte Frau hatte ihre liebe Mühe mit ihrem Gewissen.

Ich weiß nicht, ob sich in Afrika, in Asien oder vielleicht doch im europäischen Russland die Lage zuerst kritisch zuspitzte. In Afrika fiel es mir eher auf, weil die Zerstörungen gewaltsamer, augenscheinlicher waren. Das Gemetzel war gründlich. Zudem fand es häufiger als anderswo auf offener Straße statt. Das kann am milden Klima oder an den schäbigen Behausungen gelegen haben, es war so oder so von oben sehr gut sichtbar. Dieses sichtbare Morden war für die Augen besonders offenkundig, daher konnten wir es gut protokollieren: Auf den Holospeichern der Hyperborea sind zusammengerechnet insgesamt unzählige Tage mit Mordaufnahmen und viele Monate mit den Folgen des Mordens gespeichert. Tote über Tote, erschossen, zerhackt, verbrannt, manchmal mit brennenden Reifen, den Hohlraum mit Benzin gefüllt, um den Hals, was vor vierzig Jahren als necklacing in der Republik Südafrika grausige Berühmtheit erlangt hatte, vergewaltigt, von Einzelnen oder in Gruppen, in geschlossenen Räumen oder auf der Straße, aufgehängt, gesteinigt, ertränkt, vergiftet, erstochen, halb tot in Flüsse geworfen, manchmal von Brücken herunter und der Aufschlag brachte den Tod, manchmal in seichte Ufer geworfen und dann kamen vielleicht die Krokodile, vielleicht die Ratten, vielleicht die Geier, oder die Hunde, die Ameisen, die Kaulquappen, die Nilpferde, die Raben oder die Nacktschnecken. Viele verfaulten einfach nur, so viele waren es. Die Aasfresser wurden satt. Die Geier waren so sattgefressen, dass sie nicht mehr in der Lage waren zu fliegen und am Boden verdauen mussten. Wir nahmen Bilder eines neurotischen Hundes auf, der sich unentwegt vollfraß bis zum Erbrechen, um dann erneut weiter zu fressen.

Die Grausamkeiten beschränkten sich natürlich nicht auf Afrika, auch wenn sie für uns dort sichtbarer waren. In Mittelamerika herrschte schon lange eine nihilistische Kultur des Todes, zum Beispiel in Guatemala. Lange waren in diesem Land das Militär und die Polizei Instrumente der Repression. Als das Land vordergründig demokratischer wurde (aber was nutzt Demokratie ohne Rechtsstaat? Nichts! Alle vier Jahre ein Kreuz auf ein Blatt Papier zu machen, ist wie die Unterschrift eines Analphabeten, der somit eine Vollmacht unterschreibt, die er nicht versteht – im besten Falle eine Vollmacht für Koalitionsverhandlungen, in der Regel eine Vollmacht, ihn zu entmündigen. Ich gebe ja zu, selbst alle vier Jahre die zwei Kreuze gemacht zu haben, die das deutsche Wahlrecht vorsieht: Drei wären wohl angemessener gewesen, sprichwörtlicher. So oder so: Es herrscht die Macht des Stärkeren, was niemanden verwundert, weil Stärke und Macht deckungsgleich geworden sind), also, als Guatemala demokratisch wurde, gingen die Staatsmächte dazu über, ihre Grausamkeiten nicht mehr nur aus vermeintlich politischen Motiven der Staatsräson zu verüben, sondern auch und vor allem aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus. Dass es sich um dieselben Täter handelte, erkannte man an der Kontinuität der Mordmethoden und an der Tatsache, dass von den ehemaligen Führern der zivilen Polizei und des Militärs nicht einer angeklagt, geschweige denn verurteilt wurde. Die Waffen der Polizei waren nicht einmal registriert, keine ballistischen Untersuchungen waren in der Lage, sie als Täter zu überführen. Straffreiheit, wie sie im Buche steht. Das mag der Grund sein, weshalb die Untersuchungen nie durchgeführt wurden. Während die Bevölkerung Hunger litt, was zur Folge hatte, dass die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren im Land chronisch unterernährt war, bei den indigenen Völkern, den Nachfahren der Maya, waren sogar über drei Viertel der Kinder betroffen, und im Land im vermeintlichen Frieden noch vor wenigen Jahren täglich 18 Menschen umgebracht wurden, bei zwölf Millionen Einwohnern eine beeindruckende Mordrate, die später, als das Ende näherrückte, noch weiter anstieg, womit sich das Land weltweit an zweiter Stelle der Frauenmorde katapultierte, nur noch von Russland übertroffen (in Russland starben dafür mehr Männer an alkoholbedingten Krankheiten als sonst wo auf der Welt und deren Lebenserwartung war in den letzten Jahrzehnten fünfzehn Jahre kürzer als die der Frauen, trotz der Frauenmordrate), während also all dies und noch viel mehr passierte, monopolisierte die winzige Führungsschicht praktisch den ganzen Besitz und die Ressourcen des Landes. Wenn ein Westler mit einem Guatemalteken sprach, handelte es sich dabei meistens um ein Mitglied der weißen Oberschicht; um mit den Indios/Mayas/Indigenen zu sprechen, hätte man sich im Land aufhalten müssen, weil sie selbst zu arm waren, um illegal auszuwandern. Wenn man demnach mit einem Guatemalteken sprach, hörte man ihn Sätze sagen wie: „Guatemala ist das schönste Land auf Erden.“, „Guatemala ist das Land des ewigen Frühlings.“, „In Guatemala essen wir (sie sagten wir und meinten, sie seien im Recht!) täglich Fleisch.“ Und die Morde gingen weiter und wurden immer zahlreicher verübt, stets nach denselben Mustern. Eine guatemaltekische Spezialität bildete beispielsweise die tabla de Dios, ins Deutsche entweder mit „das Brett Gottes“ oder „die Tafel Gottes“ zu übertragen. Die Methode ist einfach, billig und grausam. Letzteres ist durchaus gewollt. Wenn die Täter la tabla de Dios an einer Gruppe Gefangener anwenden wollten, gingen sie folgendermaßen vor: Den Opfern wurden die Hände an den Rücken gebunden, dem Ersten in der Reihe eine Drahtschlinge um den Hals gelegt. Diese Schlinge wurde dann durch die Drehbewegung eines Stocks oder Bretts langsam verdrillt, zog sich somit unbarmherzig fester um den Hals, bis das Opfer erstickte. Die anderen sahen zu; das Ziel war es, ihnen so viel Furcht einzujagen, dass sie alles aussagten, was die Täter wissen wollen. Die Schlinge wurde die ganze Zeit weiter zugedreht, der Draht schnitt weiter durch den Hals bis zum Rückenmark, manchmal sogar so weit, dass am Ende der Kopf abfiel. Schreien konnte das Opfer bereits nach wenigen Umdrehungen des Stockes nicht mehr, aber der Nächste in der Reihe sah die ganze Zeit dessen Gesichtsausdruck während des aussichtslosen Todeskampfes. Dieser Nächste gab daraufhin in der Regel alles zu – alles, was die Täter wissen wollen. Er verriet auch, was er nicht wusste. Er nannte Namen in der vergeblichen Hoffnung, am Leben gelassen zu werden. Dieses Glück war ihm jedoch nicht beschieden, die Täter konnten einen solchen Zeugen ihrer Untaten nicht laufen lassen: das hätten sie selbst dann nicht gekonnt, wenn sie alles erfahren hätten, was sie hatten wissen wollen, aber das Opfer klammerte sich verständlicherweise an jede noch so ferne Hoffnung. Die Namen, die es genannt hatte, waren ihrerseits bald an der Reihe, die Zahl der Opfer stieg so exponentiell. Aber zunächst wurde der Rest der Gefangenengruppe der Reihe nach auf dieselbe Art umgebracht. La tabla de Dios war eine bevorzugte Methode der Polizei während der Diktatur und während des Bürgerkrieges. Sie wurde bis zuletzt angewandt und sie verrät die Täter. Die Tatsache, dass Geständnisse unter Folter wertlos sind, war irrelevant. Selbiges hatten die Franzosen mit dem Vietcong erfahren müssen, der Vietcong mit den Amerikanern und die Amerikaner mit Guantánamo. Das hatten gleichermaßen die Nazis mit den Russen und die Russen mit den Afghanen erlebt – die Russen mit den Russen sowieso. Keiner hatte aus diesem gleichsam brutalen und nutzlosen Prozedere die Lehren gezogen. Vielleicht waren die Geständnisse ein irrelevanter Vorwand: Manchen Tätern ging es wohl einzig und allein um sadistische Folter und genüsslichen Mord. Aber es ging natürlich nicht ausschließlich in Guatemala grausam dem Ende entgegen. Nur nahm die Grausamkeit überall zu.

Die Jugendgruppen Zentralamerikas, die Maras, agierten schon seit Jahrzehnten gewalttätig. Später, zum Ende hin, verhielten sie sich „normal“, weil es weltweit „normal“ wurde, gewalttätig zu sein. Sie behaupteten in ihrer vage formulierten Ideologie, Respekt anzustreben. Sie traten die Würde mit Füßen. Sie wurden aus den USA, wo sie nur rechtlose Einwanderer waren, zurück nach El Salvador vertrieben. Dort nannten sie sich „Mara Salvatrucha“, das ist eine abfällige Bezeichnung für Salvadorianer. Die zweite große Mara ist die „Mara 18“, benannt nach der 18. Straße in Los Angeles. Es gab noch viele andere, aber allein diese zwei großen Maras umfassten mehrere Hunderttausend Mitglieder. Lange Jahre bekämpften sie sich gegenseitig mit sinnlosen, willkürlichen Morden als Initiationsritus, Entführungen als Zeitvertreib, Massenvergewaltigungen als Aufnahmeritual, Grausamkeit als identitätsstiftendes Merkmal, Gewalt als Abgrenzung vor der eigenen Angst. Drogen- und Waffenhandel, Raub, Schutzgeld und Erpressung waren nur Geschäft. Die Maras haben die USA trotz der Massenausweisungen nie verlassen, Mittelamerika haben sie seit Jahren terrorisiert, dann kamen sie zunächst über Spanien nach Europa und jetzt sind sie dem Blutrausch verfallen. In der heutigen Zeit fällt ihre Gewalt kaum auf, sie sind – wie gesagt – „normal“ geworden, ohne sich zu verändern.

In Galyaco, Somalia, gibt es zwei Telefonnetze. Die Mitglieder des Hawiye-Clans haben Telefonnummern, die mit der Ziffer 4 beginnen, während die Telefonnummern der Darod mit 7 anfangen. Auf diese Weise können sie einander erkennen, sich auseinander halten und umso besser und gezielter töten. Es musste wohl so kommen.

Manches war wiederum nur bizarr: Der Drummer der Sex Pistols, Paul Cook, verursachte 1976 einen mittelgroßen Skandal im prüden Vereinigten Königreich, als er während eines Fernsehinterviews bei der BBC ein T-Shirt trug, auf dem vorn an entsprechender Stelle zwei pralle weibliche Brüste sehr realistisch abgebildet waren. Geflucht hat er außerdem, was dem Moderator der Sendung den Job kostete, weil dieser das nicht nur nicht unterbunden, sondern ihn dazu geradezu ermuntert hatte (eine Aufforderung, der Paul Cook bereitwillig nachkam, das passte zum Image der Sex Pistols).

In Amsterdam verursachten mehrere westliche Frauen unter der eingeborenen islamischen Mehrheit einen ähnlichen Aufruhr, als sie sich mit bedruckten Schleiern auf die Straße wagten. Die Schleier zeigten ihre eigenen Gesichter, es sah aus, als ob sie keine Schleier trugen. Die Muslimas fanden das obszön. Andere trugen Schleier mit dem Konterfei eines Mannes, das war in ihren Augen noch schlimmer. Dieses Verhalten war ja in der Tat als Provokation gemeint. Es folgten die zu erwartenden Straßenschlachten, es gab viele Tote und Totinnen. Das fand ich wiederum obszön. Mich erinnerte das Ganze an die orthodoxen Jüdinnen, die sich den Schädel rasieren, um dann eine Perücke aufzusetzen. Nun, das finde ich wiederum in höchstem Maße obszön.

Später dämmerte mir, dass das offensichtliche Morden in Afrika, Lateinamerika und Russland nur etwas Tieferes, Ernsteres überlagerte. Kriege und Massaker hatte es seit jeher gegeben, aber die Geschehnisse gingen so weit über alles bisher Dagewesene hinaus (und das will schon was heißen!), dass, zuerst nur von einigen Spekulanten bemerkt, die mit dieser Erkenntnis ein Vermögen machten, einige Rohstoffe knapp wurden. Wir merkten es, kurz nachdem unsere Mangan-Importe aus dem Gabun ohne Vorwarnung eingestellt wurden. Zunächst maß ich dem keine außerordentliche Bedeutung zu, Afrika versank seit Jahren ohnehin mehr und mehr im Chaos und Mangan gab es auch anderswo, wenngleich nicht so preiswert. Als eine Woche später Titan nicht mehr industriell zu besorgen war, wurde deutlich, dass das Problem ernst war. Titan kommt in abbaubaren Mengen in Malaysia, Skandinavien, Nordamerika und Australien vor. Innerhalb einer weiteren Woche versiegten die Quellen in dieser Reihenfolge. Zu diesem Zeitpunkt war längst klar, dass wir eine Katastrophe erlebten. Als erste Großstadt war Rom abgebrannt, anschließend flog Apophis an uns vorbei. Daraufhin herrschten nicht mehr chronischer, sondern akuter Hunger, entfesselter Krieg und enthemmte Zerstörung allerorts. Dass die siebzehn Elemente, die mit derart exotischen Namen wie Praseodym oder Dysprosium die Metalle der Seltenen Erden bildeten, knapp wurden, war beunruhigend. Thulium zum Beispiel, das seltenste Element der Seltenen Erden, tritt im Erdreich häufiger auf als Gold oder Platin. Hinzu kommt, dass in der Erdkruste Cer, Neodym und Yttrium öfter vorkommen als Blei. Seltene Erden werden weniger gebraucht als die üblichen Metalle, wenn sie dennoch fehlen, eskaliert die Situation schnell.

Etwas später, wir waren bereits an Bord der Hyperborea aus Berlin geflohen, fragten wir uns, was in der Zwischenzeit geschehen war. Ich weiß es nicht, ich habe jedoch den Eindruck, dass es – weltweit gesehen – weder uniform noch synchron war. Aber angesichts der menschlichen Geschichte, wann auch immer man den Anfang der Katastrophe ansetzt und erst recht in Anbetracht der Bedeutung, die sich die Menschen seit eh und je selbst beigemessen haben, sind ein halbes Dutzend Monate doch als plötzlich zu bezeichnen. Was kommt jetzt? Bisher ist die Menschheit jedoch nicht ausgerottet, bisher gibt es meine geliebte Frau, meine kleine Mannschaft und mich, vermutlich aber auch andere. Wir suchen sie nur nicht mehr. Uns wird es nicht mehr lange geben, höchstens ein paar Jahre, das können wir getrost festhalten. Wortwörtlich. Wie sind wir nur in diese Lage gekommen?

Nun, was uns in der Hyperborea angeht, erinnere ich mich noch ganz gut. Das alles und noch viel mehr ist im Holospeicher Deep Doubts archiviert.

i „Er kletterte über Leichenberge und über Sterbende und erreichte ein in Schutt und Asche gelegtes Nachbardorf. Es handelte sich um ein Abarisches Dorf, welches die Bulgaren, entsprechend den Gesetzen des bürgerlichen Rechts, niedergebrannt hatten.“

 

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