LVII. Finanzieller Kollaps: Weltrevolution, Rohrkrepierer oder Revolte?

One of man’s oldest exercises in moral philosophy is the search for a superior moral justification for selfishness.i
John Kenneth Galbraith

Als die Welt finanziell endgültig kollabierte, war es zunächst eindeutig die Schuld des Weißen Mannes, wobei zu beachten ist, dass Weiße Männer durchaus eine dunkle, gelbe oder rote Hautfarbe haben können: Ein Weißer Mann zu sein, stellt eine soziologische Kategorie dar, keine biologische und erst recht keine rassische. Der Rest der Welt war dysfunktional, keine Frage: Die Dritte Welt, die nunmehr nicht mehr ausschließlich geographisch begrenzt war, sondern sich im Herzen der reichen Gegenden eingenistet hatte, vor allem in Ländern, deren Elite sich als Erste Welt betrachtete, sich darin aber gewaltig täuschte, wie z. B. Mexiko, die Philippinen, Malaysia oder die ehemals scheinbar reichen arabischen Staaten; aber natürlich ebenso in der Ersten Welt, selbst wenn diese es beharrlich leugnete, und die sogenannten „Illegalen“, die in Kloaken wohnten und unter Brücken, im Sommer in Parks – diese allgegenwärtige Dritte Welt also implodierte unter dem ausbeuterischen und ausgrenzenden Druck der Ersten Welt. Und sie implodierte sowohl in den Ländern, die kanonisch traditionell der Dritten Welt zugerechnet wurden, aber auch in allen anderen Ländern, die von der Dritten Welt durchsetzt waren, ohne es zu wissen oder wahrhaben zu wollen. Die Mehrheit der jungen Schulabsolventen in den Ländern der Dritten Welt äußerte, als Traumberuf für eine NGO zu arbeiten, so wie in Italien und anderen westlichen Ländern als Traum der Jugend bei jungen Frauen eine Karriere als Fernsehmodel (das wurde als Sprungbrett angesehen, um danach Politikerin zu werden oder wenigstens velina oder escortii) oder Fußballspieler bei Jungs (die träumten ihrerseits von einem Sprungbrett zum Reichtum, alles andere würde sich dann schon ergeben) erstrebenswert erschien. Die Erste Welt ging hier rationaler vor als Afrika, sofern man diesbezüglich überhaupt rational vorgehen kann bei den wirtschaftlichen Problemen, die sich der Bevölkerung schon allein mit der Öl- und Nahrungsmittelversorgung stellten. Es war ein klassisches Beispiel für die Tragödie der Allmende, bei der der kurzfristige Vorteil jedes Einzelnen diesen dazu bringt, so zu handeln, dass es mittelfristig in die Katastrophe für alle mündet, besagten Einzelnen inbegriffen. Es muss bei dieser klassischen Problemstellung der Ökonomie nicht jeder derartig handeln, dass es schädlich für die Allgemeinheit ist, eine Mehrheit reicht allemal und die Mehrheit hieß im dekadenten reichen Westen alternde baby boomer, die Generation der geburtenstarken Nachkriegsjahre. Ich glaube, ich muss mich meinem Alter nach wohl oder übel dazuzählen. Mit ihrer (unserer!) demographischen Mehrheit (wenn man die Altersstruktur der Wahlbeteiligung mit einberechnete, hatten sie diese allemal, und wenn man die wirtschaftliche Macht hinzuzählte, waren sie in westlichen Demokratien spätestens um das Jahr 2020 unschlagbar) beuteten sie ihre eigenen Länder aus, beispielsweise durch das staatliche Defizit, das ihnen zugute kam, da sie die Ausgaben genossen. Die Kosten allerdings wurden den nächsten und übernächsten Generationen aufgebürdet, da diese für die Staatsverschuldung würden aufkommen müssen. Durch die Macht ihrer Erste Welt-Staaten, die sie paradoxerweise mit ebendiesen Defiziten finanzierten, unterdrückten sie den Rest der Welt. Diese Macht über den Rest der Welt wurde in den westlichen Demokratien nebenbei so geschickt medial übermittelt, dass es die Macht der baby boomer daheim festigte. Das nenne ich an alles denken, sehr geschickt. Leider war das System nicht nachhaltig tragbar. Eine Staatsverschuldung von im Schnitt 1.200% des Bruttoinlandsprodukts, die langfristigen Verbindlichkeiten noch gar nicht mit eingerechnet, vor allem so kurze Zeit nach dem Kollaps des Euros, nach den Rohstoff- und Energiekrisen und mitten in der Lebensmittelkrise war selbst mit oder gerade wegen eines im sogenannten „reichen Westen“ durchschnittlichen jährlichen Staatsdefizits von 25 % des BIP nicht haltbar. Über zwei Drittel der Staatsausgaben wurden am Ende dafür aufgewendet, die Zinsen zu bezahlen, die Schulden wurden gar nicht mehr getilgt, ganz im Gegenteil, sie wuchsen mehr und mehr an, sie uferten aus. Die baby boomer sägten an dem Ast, auf dem sie saßen, aber entweder rechneten sich die meisten von ihnen aus, dass dieser Ast nicht mehr sehr lang sein musste, denn schließlich waren sie mittlerweile zwischen 60 und 80 Jahre alt, oder sie rechneten einfach gar nicht, was den meisten Menschen ohnehin lieber ist. Man extrapoliert lieber linear und geht davon aus, dass wenn es bisher gut gegangen ist, es immer weiter gut gehen wird. Sie sind unsterblich. Sie lebten vor sich hin. Das taten sie und würden es weiter tun bis zu dem Tag, an dem sie tot umfallen würden. Die Sterberate stieg noch vor Apophis sehr schnell an, die Geburtenrate kollabierte. China und Indien waren ein Fall für sich, gleichwohl erging es ihnen unterm Strich nicht besser. Dort bestand das Problem eher in der Feudalisierung der Gesellschaft, der Unterdrückung der Minderheiten und in Indien besonders in den Kasten, das jedoch und die täglichen Revolten, die sich daraus ergaben, ist eine andere Geschichte.

Die Weltwirtschaft kam letztendlich ökonomisch und psychologisch nicht damit klar, dass dank der allgemeinen Mechanisierung und der Rationalisierung 90 % der Menschheit nicht sinnvoll zu beschäftigen war. Zwei Prozent der Weltbevölkerung reichten in der Landwirtschaft, um uns alle zu ernähren, weitere vier Prozent deckten den Bereich der Produktion und des verarbeitenden Gewerbes ab, den Rest nannte man Dienstleistung oder Verwaltung, Militär und Polizei, aber wenn man genau hinschaute, waren die meisten dieser Tätigkeiten gleichzusetzen mit kaschierter Arbeitslosigkeit, Subventionsbetrug oder Luxusarbeit. Bauern in Nadelstreifen, die im solarbeheizten Wintergarten in der norddeutschen Ebene subventionierte Orchideen züchteten. Selbst die Betroffenen glaubten daran: Wer nichts leistet, ist nichts wert und es konnten nur die etwas leisten, die einen Job hatten. Humbug, natürlich! Was ist denn schon ein Job? Warum ist es eine Schande, arbeitslos zu sein und von fremden Steuern zu leben, nicht aber, vom Lohn Dritter direkt zu leben, wenn man diesen Lohn als Mietzins einnimmt? Wenn man an die eigene Nutz- und Wertlosigkeit glaubt, ist es aus psychologischer Sicht ein Elend und viele Betroffene und die meisten, die befürchteten, Betroffene zu werden, glaubten daran.

Nicht mit Geld umgehen zu können, wird zur Volkskrankheit. Diese Unzulänglichkeit trägt nicht unerheblich zum allgemeinen Zusammenbruch bei, auch wenn es wohl nicht als Ursache auszumachen ist.

Wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer keinen Badeanzug trägt. Die Menschheit stand nun also in des Kaisers neuen Kleidern da, wie ausgerechnet die Wirtschaftswissenschaftler gern sagten. So standen ebenfalls die Staaten und die Wirtschaft im Allgemeinen da.

Jeder meint, er verstünde etwas von Wirtschaft, müsse diesbezüglich eine Meinung haben und diese lauthals und im Brustton der Überzeugung verkünden – ganz im Gegensatz zu Themen wie Physik, Bio oder gar Mathe, bei denen eine Mehrheit geradezu stolz ist, öffentlich zuzugeben, keine Ahnung von ihnen zu haben. Dennoch sind Wirtschaftswissenschaften komplex und ruhen auf einer wahnwitzigen und zum Teil überflüssigen Vielzahl von Annahmen. Wirtschaft ist sogar komplizierter als Fußball, um die andere Paradedisziplin zu nennen, bei der viel zu viele Leute meinten, sie wüssten Bescheid und verstünden etwas von ihr. Auch darüber wurde viel und leidenschaftlich geredet: Es blieb in beiden Fällen folgenlos. Der Weiße Mann hat seinen eigenen Untergang nicht aufhalten können. Viele Köche verderben den Brei, viele vermeintliche Wirtschaftsexperten führen letztendlich, wenngleich später, als man als naiver Pessimist vermuten konnte, zum Weltbankrott.

Zwischen den Weltkriegen, zu der Zeit, die spätere Historiker den „Langen Waffenstillstand“ nannten, befürchtete die sogenannte Intelligenz, besonders die in Großbritannien,iii den Kollaps des Kapitalismus aufgrund des angeblichen inhärenten Mangels, der nach Meinung der damaligen Experten mit dem Kapitalismus Hand in Hand gehen musste. Der Kollaps schien imminent und in gewisser Weise kann man den Zweiten Weltkrieg in mehr als einer Hinsicht als Kollaps betrachten. War die Zeit zwischen den Kriegen demnach vielleicht doch kein Waffenstillstand, sondern ein Ablenkungsmanöver? Es fällt mir schwer, daran zu glauben, dieser Umstand hätte nämlich vorausgesetzt, dass jemand einen guten Überblick über das Geschehen und über die Zukunft gehabt hatte. Ich bin kein Freund von Verschwörungstheorien, so viel Vertrauen in die Intelligenz und Planungsfähigkeit der vermeintlich Bösen habe ich nicht. Wenn ich als Erklärung für ein unangenehmes Phänomen zwischen Bosheit und Inkompetenz zu wählen habe, nehme ich die Inkompetenz. Die ist wahrscheinlicher. So sieht meine private Umdeutung von „Ockhams Rasiermesser“, gleichermaßen als Sparsamkeitsprinzip in der Naturwissenschaft bekannt, aus. Wer einen solchen angeblichen Durchblick genießt, wird wohl kaum öffentlich behaupten, wie damals üblich, dass Sozialismus der einzige Ausweg aus einer tiefen wirtschaftlichen und moralischen Krise sei. Sozialismus, ausgerechnet! Im Nachhinein ist man immer klüger: Was dann aus dem Sozialismus wurde, ist sattsam bekannt. Und dass der Kapitalismus nicht am Mangel, sondern am Überfluss zugrunde ging, ebenso. Überfluss gab’s zwar nur für eine Minderheit, natürlich, aber diese Minderheit war groß genug, ihre Auswirkungen folgenreich genug. Von meiner heutigen Warte aus gesehen, entbehrt dies alles nicht einer bitteren Ironie, es erscheint im Nachhinein alles abwendbar, aber das ist ein Fehler, diese Sichtweise eine optische Illusion. Sicher hätte nichts unbedingt so kommen müssen, wie es gekommen ist. Natürlich hätte eine Kleinigkeit vieles ändern können, das trifft selbst dann zu, wenn man, wie ich, den Schmetterlingseffekt für eines der größten Missverständnisse der Populärwissenschaft der letzten Jahrzehnte hält. In der Tat haben viele Kleinigkeiten fortwährend alles geändert, leider war eine der vielen Kombinationen, die die Welt durchlief, am Ende (wortwörtlich) fatal.

Dennoch: Die Tatsache, dass bei genügend Zeit eine Kombination letztendlich fatal sein muss, ändert nicht im Geringsten etwas an meiner Überraschung über den Zeitpunkt, an dem alles zusammenbrach, und ebenso wenig über den atemberaubenden, frenetischen Rhythmus, das mörderische Tempo und die tödliche, garstige Melodie, mit der sich der finale Zusammenbruch vollzog.

Als der bankrotte Staat sich in den letzten Jahren aus zunehmend mehr Bereichen des täglichen Lebens zurückzog, übernahmen private Unternehmen nach und nach das, was sich zu übernehmen lohnte. Krankenwagen, um ein frühes Beispiel zu nennen: Es rentierte sich, wenn man den kranken Menschen für den Transport bei Bedarf zahlen ließ und wenn er dazu nicht in der Lage war, musste das Opfer damit leben, dass die blutigen Bilder seines Leidens über alle möglichen Medien veröffentlicht wurden, womit sich sehr gutes Geld verdienen ließ. Im Prinzip könnte man meinen, dass es den Verletzten egal sein dürfte, wie sich die Krankenwagen finanzierten, solange sie schnell ins Krankenhaus gebracht wurden, wäre da nicht das Problem mit der menschlichen Würde. Als sich in der Folge zudem herausstellte, dass die Krankentransportunternehmer nicht nur die staatlichen Stellen geschmiert hatten, damit diese sie bevorzugt davon in Kenntnis setzten, wo es Unfälle gegeben hatte, sondern darüber hinaus, dass sie dafür bezahlten, dass die staatlichen Krankentransporte, als diese noch funktionierten, nicht losgeschickt wurden, um keine Konkurrenz zu haben und um die Opfer länger filmen zu können, empfand es die Mehrheit doch als skandalös. Entscheidend bei dieser Empfindung war wohl, dass die Verletzten nicht in der Lage waren, sich zu wehren. Als zu guter Letzt noch herauskam, dass einige Reporter Stuntmen bezahlt hatten, um Unfälle zu provozieren, war die scheinheilige Empörung groß. Das ist jetzt jedoch schon länger her, am Ende fiel dieser Skandal nicht mehr ins Gewicht. Er blieb halt bezeichnend, das ist alles.

i „Eine der ältesten Übungen der Moralphilosophie besteht darin, eine überlegene moralische Rechfertigung für Selbstsucht anzustreben.“
ii Velinas hießen die jungen, fast nackten Mädchen, die ohne weiteren ersichtlichen Grund als Dekoration bei den unwahrscheinlichsten italienischen Sendungen erschienen, escort nannte man bezahlte Begleitdamen, ein Euphemismus für Prostituierte. Weitere Details können Benito Burlescoglionis erstunkener und erlogener, aber gerade deswegen sehr lesenswerten Autobiografie „Io e me – tutto mio, tutte mie“ (2013 in einem seiner vielen Verlage veröffentlicht, der Name ist mir eben entfallen und Deep Doubt hat andere Sorgen) entnommen werden.
iii Vgl. Richard Overy, „The Morbid Age”, Allen Lane, Penguin Books, 2009, S. 78ff.

 

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