LXXXIII. Klaus will weg

Yo soy yo y mi circunstancia.i
José Ortega y Gasset

Klaus ist traurig, weil es so viel zu tun gegeben hätte, so vieles möglich gewesen wäre. Ausreden! Er ist traurig wie wir alle, weil alles den Bach runtergeht. Was faselt er? Er schwärmt von einem Aerogel, leichter als Luft. Mit Helium statt Stickstoff als Lösungsmittel bei der Herstellung. „Das wird teuer!“, entgegne ich und er lächelt traurig. Ein solides Luftschiff, kompakt mit diesem Aerogel gefüllt, wäre praktisch unsinkbar. „Die Hyperborea wird auch nicht ewig halten.“ Vendobionten hätte man mit Heißluft statt mit Wasserstoff füllen können, bei einer guten Aerogel-Isolierung…

Klaus redet weiter, etwas durcheinander:

Die Nebelkammer sei eine Erfindung, die dem schottischen Physiker, Meteorologen und Nobelpreisträger Charles Thomson Rees Wilson zugeschrieben wird, und dient der Sichtbarmachung der Bahnen, die atomare und subatomare Teilchen im Raum beschreiten. Nebelkammern seien im Wesentlichen Räume, die mit einem übersättigten Luft-Wasserdampf-Gemisch gefüllt sind, bisweilen wird statt Wasser Alkohol benutzt, das hat verschiedene Phasenübergänge bei verschiedenen Temperaturen, weshalb es mehr und detailliertere Partikelbahnen anzeigen kann. Wenn man die Hyperborea mit heißem Wasserdampf statt mit Helium gefüllt hätte, hätten wir zum einen keine Probleme, wenn das Helium langsam aus der Hülle der Hyperborea entweicht und zur Neige geht, zum anderen hätten wir eine riesige Nebelkammer daraus basteln können. Man hätte damit die kosmische Strahlung studieren können (als ob die jetzt noch relevant wäre). Man hätte…

Was wäre noch alles möglich gewesen? Klaus träumt: Kohlendioxid hätte man mit Katalysatoren in seine Bestandteile zerlegen können, dann hätte man Kohlenstoff gewonnen. Den hätte man als Brennstoff nutzen können, womit die befürchtete Erderwärmung verhindert worden wäre, wenn man es im großen Maßstab durchgeführt hätte. Das wäre CO2-neutral gewesen, heiliges Wort! Man hätte nur die richtigen Katalysatoren und die richtigen Prozesse verfeinern müssen. Jetzt weiß ich wenigstens, wozu er das Trockeneis gebraucht hat, das er ständig aus der Linde-Maschine abgekratzt hat. Ich dachte bisher, er tut das, um ihren Wirkungsgrad zu verbessern oder um Ordnung zu halten. Weitere Träume eines traurigen Ingenieurs: Motoren mit Verbindungen, Verkabelungen und Magneten aus Supraleitern, von der flüssigen Luft gekühlt, die dann erwärmt zu Druckluft wird und die Generatoren antreibt… Wenn ein Ingenieur anfängt, von perpetuum mobile zu denken, ist es schlimm um ihn bestellt.

Wir trinken heute Whisky zusammen, das mache ich sonst selten und meist allein. Klaus macht es scheinbar des Öfteren, ebenfalls allein. Heute reden wir wieder miteinander – das erste Mal, seitdem ich krank war. Ich frage ihn, ob er mich für genesen hält oder ob ich ein anderer Mensch geworden sei; ob ich nicht nur die Angst verloren habe, was ich ihm bisher verschwiegen habe, sondern ob sich darüber hinaus auch andere wesentliche Merkmale meiner Persönlichkeit verändert haben?

„Ich weiß es nicht. Du hast dich verändert, sicher. Ich auch und ich war, soweit ich weiß, nicht krank. Wenn sich die Umgebung ändert, ändert man sich mit ihr. Die Bedingungen, unter denen wir leben, sind radikal genug, um sich zu fragen: Hast du dich verändert oder zeigst du jetzt, was in dir steckt?“

Wir trinken weiter und stellen ein Schachbrett auf. Wir spielen auf unsere Weise. Wir sind beide nicht wirklich schlecht, wären aber in früheren Zeiten niemals in einen anständigen Schachklub aufgenommen worden. Daher spielten wir mithilfe unserer jeweiligen iTempts™, deren Zusatzprogramme Analysen der Situation und Zugvorschläge bereitstellten. Wir diskutierten die möglichen Züge, das konnte sehr lange dauern. Manchmal spielte der Kater für uns und wir ließen es zu. Er mochte es nicht, wenn wir uns einem Brett mit Figuren zuwendeten, statt ihm unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Er konnte durchaus durch die durch die Zufälle des Spiels aufgestellten Figuren über das Brett stolzieren, ohne eine Figur auch nur zu berühren, während er uns abwechselnd hochnäsig anstarrte. Nur gelegentlich kam es vor, dass er eine Figur wegschubste oder umwarf. In der Regel ließen wir diesen Zug nicht gelten und nahmen ihn zurück. Meistens einigten wir uns nach vielen Stunden auf ein Remis. Für gewöhnlich sprachen wir nur über die Partie. Ich weiß nicht, was in Klaus’ Kopf vor sich ging, aber ich war sprachlos. Ich fühlte mich hilflos.

Es überraschte mich nicht, als Klaus mir mitteilte, dass er abgesetzt werden wollte. Ich versuchte gar nicht erst, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Seine Wünsche und Entscheidungen verdienten meinen Respekt, ich bot ihm alle Hilfe und Mittel an, die uns zur Verfügung standen.

„…und das sind nicht wenige, wenn man die Situation bedenkt.“

„Du bleibst auf mir unverständliche Weise Optimist!“ Klaus tat so, als ob er sich die Haare raufen würde. Diese Theatralik war neu an ihm. Ich glaube, er leidet an einer Art Lagerkoller.

Später mit meiner geliebten Frau:

„Wenn wir ihn – gut versorgt – absetzen, können wir ihn jederzeit wieder einsammeln, wenn der Koller vorbei ist.“

„Das ist feige. Wie kann man feige sein, wenn man keine Angst hat? Typisch Mann: Gefühle wie ein Eisklotz! Du kannst ihn nicht gehen lassen, wir brauchen jeden von uns, wir sind nur noch eine Handvoll!“ Getroffen: Feigheit ohne Angst – wie ist das möglich? Vielleicht täuscht sich meine geliebte Frau und ich bin doch nicht feige oder dieser Zug meiner Persönlichkeit ist erhalten geblieben: So gesehen bin ich sozial feige, aber ich weiß nicht, warum. Was soll ich sagen?

Trotzdem ging Klaus Klaasen von Bord. Er erbat sich, in Irland abgesetzt zu werden, weil dort die verhältnismäßig saubere Luft vom Atlantik weht. Den Ausstieg in Chile hatte er zunächst auch erwogen, meinte aber dann, sein Englisch sei besser als sein Spanisch. War wohl ein Witz. Es fand sich ein geräumiges Haus in Küstennähe, gut mit Torf beheizbar, den konnte er jederzeit selber ausstechen, man organisierte einen Generator und viel Treibstoff, des Weiteren natürlich Sonnenkollektoren (unsere überschüssigen Grätzel-Zellen von dem Modell des Sonnensystems aus der Berliner Chausseestrasse und aus den Hallen in Tempelhof ausgerechnet in Irland! Effektiv war das nicht, Herr Klaasen sollte sich in seiner Ingenieurs-Ehre gekränkt fühlen!) und Lebensmittel. Zudem wurde für Mobilität gesorgt – zwei QuadScooter und zwei Oldtimer, die man leicht, ohne Probleme mit der Elektronik zu befürchten, überbrücken konnte. Auch dafür fand sich Treibstoff. Darüber hinaus genügend Kommunikationsmittel, um mit uns in Verbindung zu bleiben.

Die Menschheit hat eine riesige Endmoräne zurückgelassen, aus der wir versuchen, uns zu bedienen. Im Prinzip ist alles vorhanden, irgendwo, man muss es nur finden. Leider sind die Ablagerungen arg durcheinander, zum Teil zerstört, unseren Funden haftet etwas Zufälliges an. Lauter beliebige Trouvaillen allerorts. Das ist nicht befriedigend, aber an diesem Tag verspürte ich andere Sorgen dringender.

Man könne die Endmoräne auch als Wasserscheide sehen: vor der Menschheit, nach der Menschheit. Was wir in geologisch vernachlässigbarer Zeit getan hätten, sei folgenschwer genug, um diese Sichtweise zu rechtfertigen, sagte Klaus und ich nickte schweigsam.

Zum Abschied saßen wir zwei in seiner neuen Küche vor dem qualmenden Kamin (kein Wunder, dass der nicht zog: Torf erzeugt wenig Hitze und draußen war es warm). Klaus freute sich über das Feuer und ich muss zugeben, dass ich ebenfalls die kleinen, zahmen Flammen, wie ich sie lange nicht mehr gesehen hatte, und den ungewohnten, säuerlichen Geruch von Rauch genoss. Meine geliebte Frau hatte auch heute die Hyperborea nicht verlassen wollen. Klaus verstand das, sagte er. Sven Maven war schon zurück auf die Hyperborea gegangen, Beata und Nicco hatten sich ganz am Anfang schnell und kühl verabschiedet, Herr Augsburger wachte – wie wie die meiste Zeit neuerdings – beim kranken Ali am Bett. Ich wunderte mich, weshalb mir so kalt ums Herz war. Ich glaube, Klaus verspürte diese Kälte ebenfalls, ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir beide dasselbe dabei empfanden. Aber natürlich empfanden wir beide etwas, was auch immer es war. Wir verloren keine langen Worte darüber. Wir würden doch über die Verbindung, die wir mit den Augen und den Vendobionten herstellten, unsere gegenseitig kommentierten und von unseren iTempts™ soufflierten Schachpartien fortsetzen. Natürlich.

Wir taten es sogar. Ein paar Mal. Es war wie bei einer Urlaubsbekanntschaft. Wir hatten uns aus den Augen verloren, keiner von uns nahm ernsthaft die Mühe auf sich, die Verbindung aufrechtzuerhalten. Manchmal dachte ich daran, ihn anzurufen oder zu besuchen, es kam jedoch immer etwas dazwischen oder es war zu spät oder ich war zu träge.

Die Stimmung an Bord der Hyperborea war schon vorher nicht blendend gewesen, aber nun war sie auf dem Nullpunkt angekommen – von Klaus’ Abgang erholte sie sich nie.

i „Ich bin ich und die Umstände, die mich geformt haben.“

 

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