V. Theorie vs. Praxis

Meine geliebte Frau bastelt nicht, sie handelt. Die größte Erfindung der Menschheit ist meiner Meinung nach nicht das Rad, das Feuer oder woran sonst bei dieser Fragestellung oft gedacht wird, sondern die Arbeitsteilung, wofür Geld seit seiner Erfindung der beste Katalysator gewesen ist. (Überhaupt denken die meisten Menschen bei der Frage nach der größten Erfindung eher an Geräte als an Methoden, was den wesentlichen Punkt verpasst: Eine Erfindung ist eine Idee und kann durchaus immateriell sein. Und wenn es schon ein Gerät sein soll, geht der Preis an das Fahrrad – das sage ich, der ich schließlich Erfinder bin – und zwar aufgrund dessen Einfachheit, Nützlichkeit, Umweltverträglichkeit und dessen optimaler Kraftausbeute. Nun ja, wie auch immer…).

Meine geliebte Frau verkörpert die meinem Wesen entgegengesetzte Seite der Arbeitsteilung: Sie ist geboren für das Delegieren. Delegieren und seine Schwester, das Organisieren sind die Vergeistigung der Arbeitsteilung, die dadurch erst Sinn erhält und Ergebnisse erzielt. Meine geliebte Frau hat die Kernmannschaft unseres Projektes rekrutiert, organisiert und motiviert. Bezahlt haben wir sie beide, mit Ideen gefüttert habe ich sie. Diesen Sachverhalt hat meine geliebte Frau unserem Team vermittelt und damit Ordnung hergestellt. Wir kamen uns großartig vor. Ich glaube, wir waren es zeitweilig auch.

Durch meine Bastelei bekam ich eine Ahnung von dem, was möglich ist und was ich der nach und nach wachsenden Anzahl der mir unterstellten Ingenieure abverlangen konnte. Die Motivation, die meine geliebte Frau ihnen zu vermitteln in der Lage war, brachte unsere Mannschaft dazu, meine Vorgaben zu übertreffen. Auf dieser Grundlage erhöhte ich meine Anforderungen an sie, meine Wünsche wurden konkreter. Bald musste sich meine geliebte Frau nicht mehr um die Zusammensetzung des Teams kümmern, sondern um das Vermarkten unserer Ergebnisse. Das Team nährte sich selber. Es wäre kein Problem gewesen, neue Arbeitskräfte einzustellen, um zusätzliche Aufgaben zu lösen, aber die Finanzierung sollte nicht schon in dieser frühen Phase aus dem Ruder laufen. Die ersten Modelle gingen bald in die Luft und kurze Zeit später, als wir bereits ein Minimum an Zuverlässigkeit garantieren konnten, waren die Übertragungen im Internet zu abonnieren. Meine geliebte Frau machte selbst unsere ersten Gehversuche zu Geld, finanzierte unsere Experimente mit der Neugierde der Nachbarspäher und vor allem machte sie unsere Idee schon im Ansatz bekannt. Zuerst gab es nur wenige Interessenten, aber es wurden täglich mehr. Unser Projekt ging folgendermaßen vonstatten:

Als Erstes mietete ich eine Halle in der Nachbarschaft an, denn mein Erfinderlabor kam mir zu klein vor. Auch diese Halle würde schnell zu klein werden, das war mir klar, aber sie war fußläufig zu erreichen und ich hatte es nach all den vergeudeten ziellosen Jahren eilig und wollte keine Zeit mehr verschwenden. Es handelte sich um eine schmutzige Autowerkstatt mit hoher Decke und öligem Zementboden und mit einer Grube, um den Unterboden der Autos zu bearbeiten. Die würde ich zuerst zuschütten. Ich schloss den Mietvertrag nur für sechs Monate ab, ich hoffte, nach den ersten Versuchen zu wissen, was ich genau brauchen und wo ich es finden würde. So lange würden meine Geräte und Instrumente in meinem Labor bleiben, in die Zwischenhalle nahm ich nur das mit, was ich für meine Bastelei brauchen würde. Mein erstes Modell hatte als Gerüst eine geflochtene Struktur aus Peddigrohr, um die ich eine gasundurchlässige Hülle aus Kunststoff spannte. An diesem Skelett befestigte ich seitlich die Elektromotoren mit Modellflugzeugpropellern für den Vortrieb. Die Steuerruder aus Styropor mit Servomotoren für die Lenkung klebte ich hinten an und einen Block mit der Kamera (vorerst noch fest montiert, später sollte sie unabhängig vom Rest des Luftschiffes schwenkbar sein), die Batterien, den Funksender und -empfänger sowie die Kabel zu den verschiedenen zu steuernden Elementen hängte ich im unteren Bereich an, was dank des Herabsenkens des Schwerpunktes gleichzeitig eine gewisse Stabilität garantierte. Das Ganze mutete sehr plump an, meine Flechtkunst war und ist bis heute derb, aber als Prototyp erfüllte es seinen Zweck. Es stellte die Basis für spätere Verbesserungen dar und es flog.

Ich nannte das Modell Rattatán. Es war mein erstes starres Luftschiffchen, ein wahrer Zeppelin in Miniatur, knapp zwei Meter lang, über einen Meter im Durchmesser. Bei den Abmessungen war die für echte Zeppeline charakteristische starre Struktur nicht nötig, ein Prallluftmodell hätte es auch getan, aber ich setzte dennoch Peddigrohr ein, um Erkenntnisse für spätere, größere Modelle zu gewinnen. Dadurch konnte ich die Motoren auf halber Höhe seitlich der Hülle platzieren, was die Flugeigenschaften – verglichen mit der für Prallschiffe typischen Platzierung unten an der Gondel – enorm verbesserte. Mit dieser Bauweise hoffte ich, auf die späteren, größeren Modelle übertragbare Erkenntnisse zu gewinnen.

Rattatán besaß ein Gesamtvolumen von 0,8 m3, das entsprach bei einer normalen Luftdichte von 1,293 kg/m3 bei Normalnull einer Masseverdrängung von knapp einem Kilo. Dem wirkte das Gewicht des Modells entgegen, das ich – je nach atmosphärischem Luftdruck und Gewicht der anderen Komponenten des Modells – mit einer variablen Anzahl an Batterien austarierte. Ich füllte das Modell mit Wasserstoff, was zwar gefährlich brennbar ist – nicht umsonst wird es auf Deutsch auch „Knallgas“ genannt –, dafür aber billiger als Helium und nur halb so schwer; entsprechend mehr Auftrieb erzeugt es. In der Halle konnte Rattatán nach meinen Pi mal Daumen-Berechnungen tagelang schweben oder stundenlang manövrieren. Nur ausprobieren musste ich es noch.

Bei Rattatán spannte ich einfach eine äußere Hülle um das Peddigrohrgerüst; innere Kammern, die ohnehin nur Gewicht gekostet hätten und bei der Größe völlig überflüssig gewesen wären, baute ich keine ein. Die Motoren, die Steuerelemente und die Gondel befestigte ich von außen durch die Hülle, die ich anschließend mit einfacher haushaltsüblicher Silikonmasse mehr schlecht als recht abdichtete. Alles denkbar einfach – ich wollte mich nur vergewissern, dass das Konzept gangbar war. In die Gondel baute ich ein:

Eine Kamera, klein wie ein Lippenstift. Die hatte ich mir aus Gebrauchtbeständen alter Fernseh-Rennsportübertragungen über das Internet gekauft. Extrem hochauflösende Bilder, geringes Gewicht, wenig Strombedarf und die Möglichkeit, Wackelbewegungen digital auszugleichen, waren nicht zu verachten. Die Kamera konnte obendrein zwischen verschiedenen Telestufen umschalten, um das Blickfeld zu erweitern oder einzuengen – eine Art Zoom, nur nicht stufenlos. Ich fixierte die Kamera mit selbstklebendem Isolierband fürs Erste starr nach vorn blickend, im Winkel nach schräg unten zeigend, das schien mir die nützlichste und aussagekräftigste Perspektive zu sein. Für spätere Modelle schwebte mir vor, die Kamera in verschiedenen Spektralbereichen empfindlich zu machen: Infrarot für Wärmebilder, mit Restlichtverstärkung für Nachtaufnahmen, UV-empfindlich, sogar Radar- und Sonaraufnahmen müssten möglich sein. Oder verschiedene Perspektiven aus mehreren Kameras, bestenfalls schwenkbare. Für Rattatán sollte die eine fest installierte Minikamera reichen.

Dazu: ein Funkempfänger und sechs Servomotoren aus dem Modellbaufachgeschäft. Mit den Servomotoren wurden die vier Elektromotoren für den Antrieb des Modells gesteuert, ebenso wie die Höhen- und Seitenruder aus Styropor. Alle sechs Servomotoren ließen sich unabhängig voneinander steuern, somit konnten die Antriebsmotoren z. B. in entgegengesetzter Richtung betrieben werden (sehr nützlich bei engen Kurven, aber schwer von Hand zu steuern, wie ich bald merken sollte). Die Geschwindigkeit der einzelnen Motoren konnte, ebenso wie der Einstellwinkel der Höhen- und Querruder, stufenlos eingestellt werden. Bei den späteren, richtigen Luftschiffen würden wir die Servomotoren durch eine elektronische Steuerung ersetzen, was nicht nur Gewicht sparen sollte, sondern zudem eine sehr viel präzisere und vielseitigere Handhabung ermöglichen würde. Aber davon war ich zum damaligen Zeitpunkt noch sehr weit entfernt.

Als Gegenstück des Funkempfängers: ein Sender, um die Bilder der Kamera, später auch die Daten der Sensoren, an die Bodensteuerungseinheit zu übertragen. Die Bodensteuerungseinheit war natürlich vorerst ich, später sollte meiner Vorstellung nach ein Computer möglichst viele Aufgaben übernehmen.

Das Gewicht aller Teile betrug soweit 347 g, somit standen ca. 450 g für die Batterien zur Verfügung, um ein Gesamtleergewicht von ca. 800 Gramm zu erreichen, und da Zeppeline voll (d. h. mit Wasserstoff gefüllt) leichter sind als leer (also mit normaler Luft gefüllt), brauchte ich Rattatán nur bis zum aerostatischen Gleichgewicht mit Wasserstoff zu füllen. Ich schaltete sieben neue Hochleistungsakkus der neuen Handygeneration zusammen und machte mich daran auszuprobieren, wie lange Rattatán damit fliegen konnte. Beim ersten Versuch in der Halle war Rattatán durch Wasserstoffverlust am Boden, noch bevor die Akkus den Geist aufgegeben hatten. Das war für mich ein schöner Erfolg, auch wenn aufgrund der Windstille in der Halle das Ergebnis nicht wirklich aussagekräftig war. Ich hatte Rattatán lediglich einige Male hin- und herfliegen lassen und ansonsten nur eingegriffen, wenn er einer Wand zu nahe kam. Ich genoss das Ausprobieren wie ein Kind, dem man ein neues ferngesteuertes Modellflugzeug zum Geburtstag geschenkt hat, und trotzdem hielten die Akkus so lange, dass ich erst nach etlichen Stunden Spielerei nach Hause ging. Ich stellte die zwei linken Motoren auf langsam vorwärts, die zwei rechten auf langsam rückwärts und ließ sich das Modell um die eigene Achse drehen. Bei den Kunststoffpropellern hoffte ich, dass der Schaden im Falle einer Kollision gering sein würde. Ich nahm mir vor, beim nächsten Modell die rotierenden Propeller mit einem Käfig aus feinmaschigem Maschendrahtzaun zu schützen, um sie ungefährlich zu machen. Für heute sollte es reichen, sagte ich mir, dass die Propeller aus flexiblem Material hergestellt waren.

Das war töricht, denn genauso gut hätte ich das Ding bei laufenden Motoren festbinden können, um auszuschließen, dass überhaupt etwas passieren könnte. Nun, es passierte letztendlich auch nichts Irreparables, aber bei genauerem Nachdenken hätte ich die Ausdauer der Motoren ganz und gar ohne das Spielzeugluftschiff ausprobieren können. Es hätte gereicht, die Motoren auf einer soliden Unterlage fest zu montieren und laufen zu lassen, der Energieverbrauch ist bei einer gegebenen Last mit oder ohne Luftschiff gleich. Aber da ich alles schon montiert hatte,… Probieren geht über berechnen, tröstete ich mich.

Als ich tags darauf zurück in die Halle kam, drehte sich Rattatán langsam am Boden; es war wieder zu viel Wasserstoff entwichen. Ich schaltete die Motoren aus und machte mich daran, die Hülle besser abzudichten. Im Anschluss befestigte ich an der Außenhülle um die Motoren und Propeller herum Körbchen aus Kunststoff wie die, in denen teures Obst verkauft wird – das war einfacher und leichter als mit Maschendraht.

Beim zweiten Test änderte ich den Versuchsaufbau: Ich fixierte eine Stange in der Mitte der Halle vom Boden bis zur Decke und band auf halber Höhe ein Seil um eine sich lose mitdrehende Buchse, damit das Seil sich nicht um die Stange wickelte. Am anderen Ende des Seils befestigte ich Rattatán und ließ die Motoren unter Volllast laufen. Dann ließ ich los.

Das Ding schoss bei einer Seillänge von sieben Metern mit einer Geschwindigkeit von über 30 Umdrehungen pro Minute durch die Halle. Eine Umdrehung alle zwei Sekunden, wummm, wummm, wummm… Die Zentrifugalkraft war so stark, dass die Gondel, die im Ruhezustand nach unten zeigte, fast waagerecht nach außen schwang. Die Befestigungen am Peddigrohrgeflecht knarrten vernehmlich, dafür waren die Motoren leiser, als ich gedacht hatte. Wenn sich das Ding jetzt von der Halterung lösen sollte, dachte ich mir, wird es an der Wand zerschellen und dabei der Wasserstoff schlimmstenfalls in Flammen aufgehen. Ich muss hierbleiben, bis die Akkus nachlassen, oder die Geschwindigkeit drosseln. Ein Griff zum Taschenrechner zeigte mir, dass die anvisierten 80 km/h von mir ziemlich gut getroffen worden waren (2π mal Radius mal 30 Umdrehungen pro Minute mal 60 Minuten pro Stunde = 79.168 m oder eben ca. 80 km/h). Bei der Geschwindigkeit würde ich nicht ausweichen können, wenn Rattatán beschließen sollte, sich in meine Richtung selbstständig zu machen, und eine Menge Gegenstände könnte ebenso kaputtgehen. Ich hielt es für besser, die Geschwindigkeit per Fernbedienung zu halbieren und Kamera sowie Sendeeinheit zu aktivieren, wodurch die Verbrauchsdaten realistischer sein sollten, nahm anschließend die Bodeneinheit (ein Empfänger, an meinen iTempt™ angeschlossen) mit und ging ins Freie.

Die übertragenen Bilder waren durch die schnelle Drehung verschwommen. Mir reichte es zunächst festzustellen, dass überhaupt etwas übertragen wurde. Sobald die Bilder langsamer werden sollten, würde ich wissen, dass die Akkus nachließen.

Es blieb jetzt nur abzuwarten, wie lange das dauerte.

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