Was ist darüber hinaus von uns Menschen übrig geblieben, das man nicht mit bloßem Auge sieht? Die Radioaktivität natürlich. Die sieht man wirklich nicht, allerdings kann ich sie recht präzise nachweisen. Ich habe ein Dutzend Augen mit Geigerzählern ausgestattet. Geigerzähler sind recht einfach zu konstruieren: Radioaktive Strahlung wurde, als sie entdeckt wurde, nicht von ungefähr „ionisierende Strahlung“ genannt, das ist tatsächlich eine ihrer Eigenschaften. Radioaktivität ionisiert Luft, womit diese ihren elektrischen Widerstand verliert und Strom leitet. Beim Geigerzähler muss man zwischen einer rohrförmigen Kathode und einer Anode im Inneren der Kathode eine hohe Spannung erzeugen, die sich hörbar entlädt, wenn die Luft aufgrund von Radioaktivität stromleitend wird (zugegeben, man braucht zusätzlich einen Verstärker, einen Lautsprecher oder eine Lampe für die Anzeige und einen Widerstand, damit der Strom nicht schlagartig wegfließt, aber im Prinzip ist es ganz einfach.)
China-Syndrom: Quatsch! Wenn die geschmolzenen Reaktorkerne – und mit ihnen die Radioaktivität – wenigstens bis zum Erdmantel dringen würde, wenn schon nicht bis zum Erdkern! So kurzsichtig, den Atommüll auf die Art zu entsorgen, war nicht einmal der ehemalige Minister des Despotats beider Sizilien und Napoli, Riinó Totti! Aber die Schmelze der Atomreaktoren wandert nicht durch die Erde, sie bleibt in wenigen Metern Tiefe fest stecken und strahlt Wärme und Radioaktivität aus. Sehr tief dringt die radioaktive Schmelze nicht in die Erde ein, denn dann würde nicht bei jedem Regenguss auf einem ehemaligen Kernkraftwerk das Wasser als Dampf postwendend zurückkommen und ich würde nicht regelmäßig Explosionen beobachten, die vermutlich auf die thermische Aufspaltung von Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff zurückgehen; Elemente, die sich schnell wieder explosionsartig verbinden, wenn es eine Funkentladung in der Nähe gibt.
Ich frage mich, wie diese Reaktion zustande kommt. Das ist wohl von Reaktortyp zu Reaktortyp unterschiedlich: Manche Reaktoren sind immer heiß, sobald es zum Kontakt mit Wasser kommt, zischt es. Andere kühlen ohne Wasser etwas ab, aber wenn es regnet, moderiert das Wasser die Kettenreaktion, bremst Neutronen ab, erst dann erhöht sich die Temperatur. Daraufhin verdampft das Wasser und die Anlage beruhigt sich wieder. Dieser Zyklus kann lange so weitergehen. Andere Anlagen wiederum wurden mit flüssigem Natrium gekühlt. Ich will denen nicht nahekommen. Sollte sich heute noch Natrium in deren Innern befinden, möchte ich nicht Zeuge sein, wenn es sich mit Wasser verbindet, was früher oder später passieren muss, in der Tat wohl schon wiederholt passiert ist. In dem Moment wird Plutonium, Uran und ein undefinierbares Gemisch anderer radioaktiver Isotope explosionsartig in die Atmosphäre freigesetzt; von dort gelangt es früher oder später ins Grundwasser. Ich fürchte, diese Handlungskette kann sich sehr lange wiederholen.
Die Tatsache, dass etwas radioaktiv ist, kann ich mit meinen Geigerzählern leicht beweisen. Aus welchen Elementen dieses Gemisch besteht, könnte ich nur durch eine chemische Analyse bestimmen oder mit einem Gaschromatografen oder einem Massenspektrometer. Meine Geigerzähler Marke Eigenbau sind nicht in der Lage, zuverlässig α-, β- und γ-Strahlung zu unterscheiden; sie können zudem nur das Vorhandensein von Strahlung feststellen, nicht jedoch deren Intensität oder Energie, wobei diese Daten bereits einen Hinweis auf die Strahlungsquelle geben würden. Ich werde mich aber hüten, Selbiges näher zu erforschen: So genau will ich das alles gar nicht wissen; ich versuche nur, eine Flugroute zu finden, in der die radioaktive Belastung möglichst gering ist. Hierbei helfen mir die Augen mit den Geigerzählern – acht fliegen erratisch kreuz und quer durch die Welt, um nach und nach eine Karte mit den Bereichen zu erstellen, die man nicht überfliegen sollte (meine geliebte Frau hat ein Computerprogramm geschrieben, mit dem wir mit Hilfe der GPS-Satelliten, die noch ihren Dienst verrichten, die Daten der Augen automatisch kartografieren). Vier Augen mit Geigerzählern fliegen vor uns in fächerförmiger Formation und warnen per Funk, wenn die Luft verseucht ist. Da die Augen nicht so gut fliegen wie die Hyperborea, sie Höhe und Geschwindigkeit nicht so präzise einhalten und wir sie nicht ständig beobachten können, kommt schon mal ein Auge vom Kurs ab. Wenn die Geigerzähler an Bord der Hyperborea selber Radioaktivität vermelden, werden die Lufteinlässe automatisch geschlossen und wir atmen die flüssige Luft, die primär als Energiequelle dienen sollte. Das passiert des Öfteren. In dem Falle verdampfen wir von der flüssigen Luftreserve was wir zum Atmen brauchen, und speisen es in die Lüftung, während wir auf Batterie fliegen. Ich hoffe, mit dem so erzeugten Überdruck keine verstrahlte Luft in die Hyperborea gelangen zu lassen oder zumindest die verstrahlte Luft spätestens dann aus der Hyperborea verdrängt zu haben, wenn wir den radioaktiven Bereich jeweils wieder verlassen. Eine solche Situation kommt nicht oft vor, aber doch gelegentlich. Ein Nachteil dieser Belüftungsmethode besteht darin, dass die Luft trocken wird. Die verflüssigte Luft enthält keine Feuchtigkeit. Die Katzen und Foc merken es auch, trockene Luft macht sie unruhig, aufgekratzt. Ich nehme an, den Pflanzen meiner geliebten Frau bekommt es ebenfalls nicht.
Bis jetzt scheint dieser Ansatz zu funktionieren, aber bei Radioaktivität weiß man nie. Man spürt sie nicht. Die Sinnesorgane der Lebewesen in den Umgebungen der zerstörten Atomkraftwerke sind für die Strahlung unempfindlich, daher fliehen sie nicht. Manche, wie die Pflanzen, können ohnehin nicht fliehen. Für die Folgen hingegen sind sie nicht unempfindlich und schon gar nicht immun. Normalerweise sinkt bei radioaktiver Verstrahlung die Geburtenrate und die Lebenserwartung, heute wird es vermutlich nicht anders sein, auch wenn ich natürlich keine empirischen Untersuchungen durchführe, wie sollte ich? Ausgerechnet dort, wo die Strahlung am höchsten ist, soll ich Untersuchungen durchführen? Mit welchen Mitteln? Und wozu? So weit reicht meine Neugierde nicht. Ich gehe einfach davon aus, dass es so ist, dass die verstrahlten Tiere ebenfalls anfälliger für Krankheiten und Parasiten sind, dass sie weniger fruchtbar sind und so weiter und so fort. Hauptsache, wir bekommen diese Symptome nicht. Mehr kann man in unserer Situation nicht verlangen, meine ich.
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