LXXV. USS Enterprise und USS Dubbja

Da hat also Gott dem Menschen sozusagen einen Riegel vorgeschoben.
Könnten die Menschen auch noch durch die Luft fahren,
so wäre ihre Schlechtigkeit rein gar nicht mehr zu zügeln.i
Gottfried Wilhelm Leibnitz, 1710

And what rough beast, its hour come round at last,  Slouches towards Bethlehem to be born?ii
William Butler Yeats
The Second Coming

Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum beim Verschwinden der Menschheit Atomwaffen eine so geringe Rolle gespielt haben, oder vielleicht sollte ich lieber sagen, ich kann mir kaum erklären, wie die Menschheit so schnell und gründlich verschwinden konnte, obwohl kaum Atombomben eingesetzt wurden. Atombomben – die Angst aus der Zeit meiner Kindheit. Es gab sehr wohl Ausnahmen: Ich komme immer noch nicht darüber hinweg, dass auf Jerusalem innerhalb von vier Tagen sieben Atomwaffen fallen mussten, vier davon, der Magnitude der Explosionen nach zu urteilen, Wasserstoffbomben, aber so geschah es. Es gingen bei den Detonationen einige Augen verloren, aber die Vendobionten haben aus der sicheren Entfernung, die ihre große Flughöhe bietet, alle Explosionen aufgezeichnet, manche mehrfach aus verschiedenen Relaisschiffen. Wir haben alles dokumentiert. In Rom entstand alles aus Sklavenarbeit, es endete durch einen Sklavenaufstand. Folgerichtig musste es Jerusalem auch an den Kragen gehen. Eine Spartakiade der aufständischen Sklaven, gestoppt vom ferngesteuertem Militär.

Andere Städte wurden selbstverständlich ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen: New York musste natürlich daran glauben, es war wie im Film. Ebenso Paris und London, demgegenüber weder Moskau noch Berlin. Einige militärische Stützpunkte wurden bombardiert und manche Atombomben explodierten einfach über unbewohnten Gebieten, was ich ebenfalls merkwürdig fand. Dabei haben bereits ein oder zwei atomgetriebene U-Boote bereits die Anzahl Atomwaffen an Bord, die wir insgesamt haben explodieren sehen, und es gab zuletzt viele atomgetriebene U-Boote. Von den unzähligen Waffen, die auf festem Boden, Interkontinentalraketen, auf Flugzeugträgern und Stützpunkten der Luftstreitkräfte oder eventuell sogar völkerrechtswidrig im All stationiert waren, ganz zu schweigen. Die meisten Militärstützpunkte blieben sogar äußerlich intakt, obwohl sie bei näherem Betrachten von Einschusslöchern durchsiebt und mit Leichen übersät waren. Wie die Schiffe, von denen viele noch Jahre später herrenlos auf den Meeren schwammen, sich nach und nach in der Sargassosee und in den beiden großen pazifischen Strudeln ansammelten, sofern sie nicht an eine Küste gespült wurden, wo sie beim nächsten Gewitter auseinanderbrachen und allmählich verrosteten und zerfielen. Militärschiffe blieben am längsten flott, nach über einem Jahr betraten wir eines auf der Sargassosee. Es war der 12. Oktober 2030. Es handelte sich um die USS Enterprise, einen riesigen Flugzeugträger mit einem Science Fiction-Namen. Die USS Enterprise schwamm unweit der USS Dubbja, dem berühmten Schiff mit dem Motto „Mission Accomplished“. Die USS Dubbja hatte bedrohliche Schlagseite nach Steuerbord, wir gingen lieber auf die USS Enterprise. Die USS Enterprise hatte geschätzte zehn Meter zusätzlichen Tiefgang, war aber allem Anschein nach stabil. Sie neigte sich nicht, sie ruhte ruhig im Algenmeer. Ein leichter Wellengang plätscherte gegen ihre Seiten, dicht neben dem Schiff trieb eine gelbe Plastikente im Wasser. Die Start- und Landepisten, die ersten unteren Decks mit den Hangars, in denen zahlreiche Kampfflugzeuge und Hubschrauber lagerten, die Waffenlager, in denen wir endlich nennenswerte Mengen an Munition fanden, sowie die Werkstätten, in denen Klaus, Sven und ich zahlreiche Werkzeuge und kleine Teile zu Reparatur- und Wartungszwecken einsammelten, waren mit vielen sich zersetzenden oder teilmumifizierten Leichen übersät, aber eigentlich war es überall überraschend erträglich, trotz der fauligen Luft. Auch ein Besuch der Kommandobrücke war möglich, wenn wir für den Weg dorthin Gasmasken (die wir an Bord gefunden und mitgenommen hatten) aufsetzten. Einzig ins dunkle Innere des Schiffes, in Richtung der Mannschaftsquartiere, des Atomreaktors, der Treibstofflager, der Kombüse, der Essensräume…, trauten wir uns nicht vorzudringen. Der Gestank war zu ekelhaft, es schien, als ob überall etwas krabbelte, Insekten oder Nagetiere, vorausgesetzt, wir hatten keine akustischen Halluzinationen: Schimmelfäden bedeckten ganze Flächen und versperrten Durchgänge wie Spinnweben in einem billigen Horrorfilm. Ich überlegte, ob wir es wagen sollten, mit den Kälteschutzanzügen der Hyperborea ins vermoderte Innere vorzudringen. Ich verwarf die Idee. Ob aus Feigheit, Angst um die zwei einzigen Schutzanzüge, die wir unser Eigen nannten, aus Faulheit oder einfach weil ich keine Lust auf das hatte, was uns im Inneren des Schiffes vermutlich erwartete, ist mittlerweile nicht mehr wichtig. Wir flogen kurz darauf wieder fort, immer weiter, die Seele betrübt, zufrieden, auch diesem Tode entkommen zu sein, aber – wie immer – um diese Menschen trauernd.

i Gelesen im Museum für Verkehr und Technik, Berlin.
ii „Und welch’ räudiges Vieh, dessen Zeit nun gekommen, kriecht krummbuckelig, seiner Geburt entgegen, auf Bethlehem zu?“

 

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