LVI. Völkermord für alle

Sans la police, tout le monde tuerait tout le monde,
et il n’y aurait plus de guerre.i
Henri Jeanson
(Satrape du Collège de ‘Pataphysique seit dem 28. August 1961)

Bestiae sumus, ut non bestiae simus.ii

Die Welt war seit jeher gewalttätig, aber etwas ist neu. Früher war es üblich, dass die Mitglieder einer Gruppe die Mitglieder einer anderen Gruppe angriffen. Die Methode war stabil, es hätte wohl lange derartig weitergehen können. Heute kommt hinzu, dass sich Menschen innerhalb einer Gruppe gegenseitig ermorden. Früher waren die Jugendlichen gefährlich, vor allem die jungen Männer, ganz besonders dann, wenn sie einen Triebstau erlitten. Heute sind darüber hinaus Erwachsene – Männer wie Frauen – gewalttätig. Nein, ich führe keine Beispiele mehr für die Gewalt auf, die sind ohnehin bekannt oder gut vorstellbar. Ich wundere mich nur, warum deren Häufigkeit zunimmt, deren Heftigkeit, deren Unverhältnismäßigkeit. Das Ergebnis ist niederschmetternd.

Schon um die letzte Jahrtausendwende ereigneten sich in China um die 90.000 Revolten jährlich, in Indien über 35.000, im subsaharaischen Afrika 25.000… Seitdem wurde es stetig allmählich schlimmer, jetzt ganz plötzlich sehr viel schlimmer. Einst wurde erforscht, dass Massaker in kleinem Umfang von pathologisch gestörten Menschen, in der Regel von Männern, verübt wurden, Völkermord in großem Umfang hingegen nur mit einer gewissenhaften Planung und Koordinierung durchzuführen war.iii Das ist heute auf jedem Fall anders, die Befehlskette ist für den Angriff wie für die Verteidigung zusammengebrochen. Menschen beiderlei Geschlechts, aus allen sozialen Schichten, jung wie alt, gebildete und ungebildete, haben auf der ganzen Welt entdeckt, dass man ohne Logistik und fremde Unterstützung morden kann. Noch zahlreicher sind diejenigen, die zu ihrem Leidwesen feststellten, dass es leicht ist, ermordet zu werden. Ganz zum Schluss wurden beide Gruppen deckungsgleich: Alle Mörder wurden ermordet. Das ging schnell, es dauert nicht mehr lange.

Man könnte meinen, die Menschen seien zum Ausrotten anderer Wesen wie geschaffen, sie haben es jedenfalls, absichtlich oder unfreiwillig, oft genug getan. Die megalithische Megafauna wurde mehrfach erwähnt (und ihr Verschwinden im Nachhinein mit Krokodilstränen bedauert); in modernen Zeiten wurde die Ausrottung großer Tierarten systematisch und effektiv betrieben, zunächst in Europa, danach überall, wo wir hinkamen: Nordamerika, Südamerika, Neuseeland, Australien, Tasmanien… Man diskutierte auch gerne, ob der Neandertaler von alleine ausgestorben ist oder ob wir Menschen ihn ausgerottet haben. Wir Menschen! Das impliziert, der Neandertaler war kein Mensch. Waren „wir“ damals schon Menschen? Sicher ist nur, zu jeder Zeit hat es Vorfahren von uns gegeben. Immer. Bis heute. Das ist logisch zwingend. Und irgendwann gab es keine Neandertaler mehr. Es ist denkbar, dass sich Neandertaler und Mensch gekreuzt haben können. Die Tatsache, dass man im Erbgut moderner Menschen keine Spuren von Neandertaler-DNA gefunden hat, beweist einzig und allein, dass die Früchte dieser Kreuzungen keine Nachkommen hatten. Vielleicht waren sie unfruchtbar, wie die Kreuzung von Esel und Pferd unfruchtbar ist. Vor dem Neandertaler hörte der Homo antecessor auf zu existieren, ebenso wie zuvor der Homo erectus, der Homo ergaster, der Homo habilis, der Homo heidelbergensis, der Homo rhodesiensis und der Homo rudolfensis sowie alle fossil bekannten Australopithecinen, Kenyanthropus- und Paranthropus-Arten. Bedeutet dies, „wir“ hätten diese Arten alle ausgerottet? Oder kann man daraus schließen, dass diese Arten sich weiterentwickelt haben? Haben wir sie vernichtet oder haben sie sich in uns verwandelt? Und was ist jetzt? Rotten wir uns selber aus oder verwandeln wir uns bloß in Nichts? Sublimieren wir uns konsequent zu Tode? Oder haben zu viele den Begriff der Homophobie nur falsch verstanden? Wie dumm aber auch!

i „Ohne Polizei würde jeder jeden umbringen, dann gäbe es keinen Krieg mehr.“
ii „Wir wurden zu Bestien aus Angst, Bestien zu sein.“
iii Vgl. z. B. Daniel Jonah Goldhagen. „Worse Than War: Genocide, Eliminationism, And The Ongoing Assault On Humanity“, PublicAffairs, New York, 2009. Dazu sendete die ARD am 18. Oktober 2009 eine interessante Dokumentation, deren Ergebnisse leider das, was nun in der Welt passiert ist, nicht adäquat widerspiegelt. Völkermord ist weltumspannend leider auch ohne eine durchdachte Planung möglich.

 

< zurückvor