Nachts, während meine geliebte Frau schlief, überlegte ich: War ich ein pragmatischer utilitaristischer Viktorianer geworden, eurozentriert und technikgläubig? Mit den Viktorianern habe ich immerhin eines gemeinsam: Ich weiß, wie man sich gepflegt langweilt. Oder bin ich eher ein Post-Expressionist mit einem Anflug von Nihilismus? Ein selbstgefälliger Existenzialist? Wessen Epigone war ich geworden? Welchem Anachronismus hing ich nach? Mir dämmerte, dass, so lange ich nicht wusste, wer ich vorher gewesen war, vor meiner Grippe, vor unserer Flucht sogar, ich nicht in der Lage sein würde zu wissen, wer ich heute bin. Vielleicht hatte Beata doch Recht in ihrer gekränkten, ressentimentgeladenen Wut: Ohne Referenzrahmen war ich niemand, ein Nichts. Käpt’n Nemo, in der Tat…
Aber natürlich ist Alles Nichts, was denn sonst? – Bis auf den subjektiven Restwert, den ich dem Nichts um mich herum vorläufig zugestehen will oder muss. Was könnte zuletzt subjektiver sein als meine geliebte Frau und ich, als Letzte? Bi-subjektiv, das lasse ich noch gelten. Jeder für sich. Ganz friedlich, ohne Kommunikation oder gar Meta-Kommunikation darüber. Wir wissen beide, dass Form Leere und Leere Form ist.
Ich bin beunruhigt: Klaus meldet sich seit einigen Tagen nicht mehr aus Irland, wir fliegen morgen hin. Wir finden ihn tot. Er stinkt. Wir werden niemals erfahren, ob es Selbstmord war, obwohl alles darauf hindeutet, oder ein natürlicher Tod. Ich führe gewiss keine Autopsie durch, ich wüsste gar nicht, wie man eine macht, und auch nicht, wofür. „Sollen wir ihn begraben?“ „Ja, klar.“ „Warum?“ „Weil Torf weich ist.“ „Also war Irland doch eine bessere Wahl als das felsige Südamerika.“
Nun waren wir endgültig allein, ganz auf uns gestellt.
Klaus hinterlässt einen Notizblock auf seinem Küchentisch. Darin steht: „Menschen, Hamster und Flughunde haben eines gemeinsam: Sie können kein Vitamin C endogen produzieren, also müssen sie es mit der Nahrung aufnehmen. Normalerweise ist das kein Problem, die drei Spezies essen genug Früchte.iii Jetzt reichen diese Früchte nicht mehr aus, unser Bedarf ist wohl gestiegen, und wir sterben. Meine These: Das liegt am Apophis-Staub. Nicht zu beweisen. Ohne Vitamin C produziert unser Gehirn (mit Apophis-Staub und ohne genügend endogenes Vitamin C) die falschen Proteine, die werden zu Prionen? Je nachdem, wo sie sich ablagern, wird man dumm, aggressiv, furchtlos, apathisch, aphasisch oder, wie ich bei mir beobachte, maßlos. Bei mir äußert sich die Maßlosigkeit als Trinksucht und Depression. Genug also!“ Woher hat Klaus diese Gewissheiten? Was hat er gewusst, was hat er nur geraten? Sind Hamster und Flughunde ebenso ausgestorben? Woher will er das wissen? Ich nehme mir vor, nachzuschauen, was er zuletzt mit den Augen beobachtet hat, er hatte ja vollen Zugang behalten. Es spricht vieles für Selbstmord. Ich projiziere am Abend diesen Text von ihm in den Himmel (bis auf die letzten zwei Sätze; ich habe die Empfindung, dass ich es Klaus so schuldig bin, auch wenn es genau genommen nur eine leere Geste ist) und denke an mich und was mit mir passiert. Furchtlos bin ich auch, in der Tat, aber ob das an Prionen liegt oder an den Katzenparasiten Toxoplasma gondii, die mein Immunsystem nicht mehr unter Kontrolle hat und die Zysten im Gehirn an genau der richtigen (oder falschen) Stelle gebildet haben? Woher soll man (man? Gemeint bin ich!) das entscheiden können? Und wenn man es entschiede: Welche Handlungsanweisungen ergäben sich aus dieser Entscheidung, diesen vermeintlichen Erkenntnissen? Was tun? Außer Klaus’ Gedanken an den Himmel zu werfen, auf dass sie jemand lese, der mit ihnen etwas anfangen kann. Und wenn nicht, ist es mein symbolischer Abschied, eine Geste eben. So kann man die Idee, nach der Leere Form und Form Leere ist, auch auffassen. Eine andere Form der Leere: die Geste, formvollendet. Buddhismus für Anfänger, aber wohlerzogen. Wenn Klaus’ Gedanken denn überhaupt stimmen. Vorausgesetzt, jemand ist da, jemand, der den Wahrheitsgehalt und die Relevanz zu erkennen vermag in der Hoffnung, dieser hypothetische Mensch könne mit dieser Information überhaupt etwas Sinnvolles anfangen. Wir können es nämlich nicht. Trotzdem muss ich sagen, dass mir die Axolotl-Geschichte reizender als Prionen oder Toxoplasmen vorkam, das allerdings ist eine rein ästhetische Kategorie ohne normative Kraft und sie gibt mir keinen Handlungsansatz. Immerhin sind beide Theorien nicht so degoutant wie BSE oder Scrapie bzw. Creutzfeld-Jacob n.V. (neue Variante).
Wir fanden eine Kiste, schön säuberlich gepackt. Sie enthielt Klaus’ iTempt™, einige technische Handbücher und eine schöne Sammlung alter irischer Whiskeyflaschen. Im Wohnzimmer lagerte Klaus große Mengen Zucker, Mehl, Nudeln, Erbsen und vier große Fässer Bier. Wo hatte er sie her? Ob sie noch gut waren? Seine Werkstatt war aufgeräumt, alles sehr sauber und ordentlich. Auf dem Tisch stapelten sich viele blütenweiße Blätter Papier. Die würden wir ebenfalls mitnehmen, wir benutzten schon zu lange die gleichen Blätter ein ums andere Mal für unsere Ausdrucke. Das funktionierte, natürlich, die Ökotinte, die berühmte magink™, verblasste wie vorgesehen nach zwei Wochen, aber das Papier wurde durch das viele Drucken nicht besser: durch die wiederholten Durchgänge über die heiße Tonertrommel wurden die einzelnen Blätter lappig, ihre Oberfläche vom ständigen Benutzen speckig. Im Schrank befanden sich zwei Gewehre und ein Dutzend Schachteln Munition. Die waren mir willkommen.
Alles, was wir nicht mitnahmen, ließen wir unverändert stehen. Das Begräbnis war schlicht: keine unnötigen Zeremonien. Loch in Erde, Leiche rein, Erde drüber, Begräbnis vorbei. Meine geliebte Frau hatte aus diesem Anlass zum ersten Mal seit Jahren die Hyperborea verlassen. Als wir wieder gingen, verspürte ich kurz das Bedürfnis, Klaus’ Haus anzuzünden. Ich tat es nicht.
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