XXX. Waljagd

Nun kamen wir endlich dazu, eine veritable Waljagd aufzunehmen. Das Opfer war ein männlicher Pazifischer Nordkaper (Eubalaena japonica), einer der hässlichsten Wale, die es gibt. Nordkaper sind von alters her bei Walfängern beliebt, weil sie nach dem Tod nicht untergehen, so viel Auftrieb verleiht ihnen die dicke Schicht Blubber unter der Haut. Daher nennen die Engländer diese Walart heute noch right whale und die Spanier selbige ballena franca. Beide Bezeichnungen deuten darauf hin, dass es den Walfängern das Leben erleichtert, wenn sie ein Tier dieser Art oder der atlantischen Unterart, den Atlantischen Nordkaper (Eubalaena glacialis), oder der südlichen Unterart, den Südkaper (Eubalaena australis), harpunieren.

Nordkaper sind nicht nur – wie erwähnt – hässlich, mit ihrem unförmigen wulstigen Körper und den unzähligen Hautwucherungen, insbesondere um das Maul, am Blasloch und um die Augen herum, sie sind auch langsame Schwimmer und neigen zur Faulheit. Diese letztgenannten Eigenschaften machen sie in den Augen der Walfänger noch attraktiver. Sie sind so faul, dass sie manchmal gar nicht aktiv schwimmen, sondern den mächtigen Schwanz aus dem Wasser heben und diesen wie ein Segel benutzen, um sich vom Wind treiben zu lassen.i Dieses Verhalten konnten wir sogar aufnehmen, zum Teil ließen sich die Nordkaper bis zu einer halben Stunde so treiben, ab und zu ihre Mäuler öffnend und dabei gemütlich vor sich hin fressend. Auf diese Art verbrauchen sie kaum Energie; das Wasser gibt ihnen Auftrieb, der Wind bewegt sie und sie setzen sehr dicke Blubberschichten unter der Haut an, das macht sie so unelegant in der Erscheinung (und umso wertvoller für die Walfänger). Manche Weibchen wiegen bis zu 80 Tonnen bei nur achtzehn Metern Körperlänge, die Männchen sind in der Regel kleiner.

Eines unserer Augen folgte demnach einem Nordkaper durch die Beringstraße, einer Meerenge zwischen Alaska und dem östlichen Teil Sibiriens (auf halber Höhe Alaskas ungefähr), unter uns die Datumsgrenze, natürlich unsichtbar. Das Wetter war gut, der Himmel blau, die See ruhig. Der Wal unter uns (das heißt natürlich unter dem Auge, aber die Bilder waren so detailliert und naturgetreu, als wäre man tatsächlich da; genauso, wie unsere Werbeabteilung immer behauptet hatte) schwamm gemächlich an der Oberfläche und fraß, als sich zwei lange Ruderboote von Westen her näherten. An Bord befand sich je ein Dutzend Männer, sie trugen Harpunen. Die Jagd war überraschend kurz, das Tier wehrte sich kaum: Zunächst platzierten sich die beiden Boote links und rechts neben dem Wal, die Harpunen flogen wie auf ein Zeichen, als der Wal die Schwanzflosse aus dem Wasser hob. Diese ersten Harpunen haben die Sehnen an der Flosse durchtrennt und somit den Wal in seinen Bewegungen stark gehemmt. Daraufhin folgten die nächsten zwei Harpunen und zwei weitere in schneller Folge. Der Wal krümmte sich, versuchte noch zu tauchen, aber an die Harpunen waren mit kurzen Seilen große leere und schmutzige Plastikkanister gebunden, die als Schwimmer fungierten und deren Auftrieb die Bewegungen des Wals zusätzlich behinderten. An dieser Stelle des Meeres ist das Wasser nicht tief, dieser Umstand spielte den Jägern in die Hände. Das Wasser schäumte rot, die Boote ruderten im Takt an den Flanken des verwundeten Tieres. Weitere Harpunen wurden geworfen, von denen die meisten trafen: Ihr Ziel war groß genug, Kraft war aus dieser geringen Entfernung wichtiger als Präzision. Die Boote schienen zu keiner Zeit Gefahr zu laufen zu kentern, die Ruderer arbeiteten synchron, regelmäßig, routiniert. Als der Wal nach einer halben Stunde starb (schneller, als ich dachte), jubelten sie. Einige vollführten einen kleinen Tanz, es wurde mehrere Flaschen pro Boot herumgereicht. Dann wurde an beiden Booten je ein Außenbordmotor angebracht, der Wal festgebunden und die Jäger schleppten ihre Beute an Land. Wir waren die ganze Zeit aus fünfzig Metern Entfernung Zeugen ihrer Jagd gewesen, da beschloss ich, obwohl wir für die russische Seite der Beringstraße keine Überflugerlaubnis hatten, ihnen zu folgen. Die Walfänger hatten uns scheinbar nicht wahrgenommen, im Netz hingegen hatte sich die Neuigkeit schnell verbreitet. Es schauten am Ende der Jagd über zehntausend Kunden zu, Tendenz stark steigend.

Die meisten sahen die Originalbilder ohne Kommentar, es waren jedoch bereits drei Kommentatoren eingesprungen, zwei berichteten auf Englisch und einer auf Deutsch. Dem Akzent nach zu urteilen kam einer der Englischsprecher offenbar aus Alaska,: er trug den Namen Paul Palin – vermutlich ein Künstlername. Die Deutsche stammte wohl aus Kreuzberg; sie nannte sich Misanthropithecus Montecrucianus und hatte sich in Berlin als User registriert. Der Dritte, wie Paul Palin männlich, hatte vergleichsweise wenige Zuhörer, was meiner Meinung nach an seinem grässlichen Akzent im Englischen lag. Er hatte George Boy George als Nick gewählt, ein blöder Name. Paul Palin kannte sich mit dem, was übertragen wurde, gut aus, im Gegensatz zu MM und GBG, die nur unsachgemäß über das traurige Los des Wals jammerten. Die indigenen Völker Alaskas haben ebenfalls, wie ihre sibirischen Nachbarn, eine jährliche Walfangquote, vielleicht hatte Herr Palin einst selber an einer ähnlichen Jagd teilgenommen. Er kannte die Namen der Möwenarten, die am Kadaver pickten, beschrieb die Strömungen, die Namen der Berge in der Ferne. Die Boote, den Wal noch immer im Schlepptau, steuerten Lorino an in der autonomen Region Chukotskij, ein winziges Fischerdorf am Meer, von Sümpfen und Mooren umgeben, ohne eine feste Straßenverbindung zur Außenwelt. Die Schlepperei dauerte eine ganze Weile, die Außenborder waren nicht sehr leistungsstark, der Wal hingegen schwer und sperrig. Als sie an der Küste ankamen, wartete schon das halbe Dorf am Strand, vielleicht zweihundert Menschen. Die Gegend in Chukotskij ist arm, die Menschen betreiben Subsistenzwirtschaft und das bedeutet hier im hohen Norden, beim ständigen Permafrost, jagen und fischen; es ist keine Landwirtschaft jenseits der Pilzsuche und des Beerensammelns möglich. Am Strand waren zahlreiche Gestelle zu sehen, an ihnen trocknete Lachs im Wind, ebenso Robbenfelle und Fleisch unbestimmter Herkunft. Und überall summten Fliegen und Mücken.

Der Wal wurde mittels eines alten klapprigen, stark rauchenden Traktors aus uralter sowjetischer Zeit an der Schwanzflosse aus dem Meer geschleppt, im Anschluss daran gab es zunächst einige rituelle Opfergaben. Während dieser Zeit konnte man den Wal an Land bewundern: seine wulstige Stromlinien-Silhouette, seine Größe, jetzt gut mit den ringsum stehenden Menschen zu vergleichen. Dem Wal wurden Pflanzen aus der Region, Wodka, Brot und Schokolade angeboten, anschließend wurde ihm eine Zigarette ins Maul gesteckt. Zwei Frauen strichen dem Wal mit Reisigzweigen am Körper entlang, es sah aus, als ob sie ihn sauberfegen würden. Paul Palin kommentierte diese aus dem Animismus stammenden Bräuche weiterhin kenntnisreich und sachlich, die anderen zwei Kommentatoren taten durchgehend entsetzt empört, insbesondere natürlich die gute Deutsche. Dann ging es ans Zerlegen der Beute. Das ging schnell, das machten sie offensichtlich nicht zum ersten Mal. Zwei Männer, jeweils mit einem großen Messer an einem langen Stiel, schnitten den Wal der Länge nach von hinten nach vorn auf, während zahlreiche Helfer mit Hacken und Seilen die Haut spannten. Daraufhin wurde Schicht um Schicht zuerst der Blubber, dann das muskulöse Fleisch, zuletzt die Innereien, das riesige Herz und die Lungen abgetragen. Ein Mann nahm mit bloßen Händen das Gehirn aus dem mächtigen Schädel heraus. Ein anderer entnahm die Gehörgangknochen, später würde er aus ihnen, wie Paul Palin erläuterte, kleine magische Figuren schnitzen. Die Barten wurden abgehackt, die Kinder schienen sie zu mögen: Sie lutschten daran, wie die Kinder bei uns Zuckerwatte essen. Die Erwachsenen schienen Blubberklumpen oder Hautstreifen zu bevorzugen. Das Dorf teilte sich den Fang, jeder trug etwas davon, in Plastikeimern, in Säcken, mit bloßen Händen. Das meiste würden sie einfrieren, hierzu reicht ein Loch im Permafrost, einiges würden sie trocknen, einen kleinen Teil des schwärzlichen Fleisches würden sie sofort verzehren, zum Teil roh, zum Teil gekocht oder gebraten. Aus dem Blubber gewinnen sie Tran, damit betreiben sie im Winter ihre Öfen und Lampen. Nach zwei Stunden war an der Landungsstelle kaum etwas zu sehen außer den blanken Knochen und dem teilweise ausgehöhlten, mittlerweile bartenlosen Kopf. Im Sand blieben einige Blutspritzer und Blubberreste, jetzt kamen die Möwen auf ihre Kosten. Früher wurden die langen, bogenförmigen Kieferknochen aufrecht in den Sand gesteckt, heute weiß niemand mehr, warum dieser Brauch einst entstand und wozu er gut war, also tut es auch keiner mehr. Die alten Kieferknochen sieht man aber noch, von der Witterung gebleicht, in die Luft ragen, es sind bei Weitem nicht alle umgefallen. Wir flogen nun, nachdem alles vorbei war, scheinbar unentdeckt oder schlicht ignoriert, zurück aufs offene Meer, zunächst am Strand entlang, nach Westen, an zahlreichen Flussmündungen, sumpfigen Teichen und kleinen Seen vorbei; alsbald drehten wir nach Süden, in Richtung des ebenfalls armseligen Dorfes Yanrakinnot (Янракыннот auf Russisch), der genauso wie Lorino unter sowjetischer Herrschaft und auch davor wohl kaum bessere Tage gesehen hatte, was traurig genug ist; dann nach Osten zurück nach Alaska, vorbei an der kleinen Siedlung Wales, mit ihren zwei kurzen Straßen (der Name kam mir passend vor, auch wenn auf Englisch ein „h“ fehlt, um es perfekt zu machen) und weiter nach Norden, an Wales’ kleiner Landepiste vorbei auf unserem ursprünglichen Weg in die Arktis.ii

Dieses Spektakel gab mir in mehrerer Hinsicht lange zu denken. Auf der einen Seite war die kontroverse Berichterstattung bemerkenswert in dem Sinne, dass sich sowohl Paul Palins Kommentar wie auch das seiner zwei Mitkommentatoren wochenlang in den Top Twenty unseres Archivmaterials hielten. Und nicht nur das: Viele Zuschauer sahen und hörten die Szenen mehrmals, mit verschiedenen Kommentaren. Das konnten wir anhand der Logins präzise feststellen. Unsere Kunden verglichen offenbar die verschiedenen Versionen.

Ebenso bemerkenswert, wie oft zudem in externen Medien über diese Szene berichtet wurde. Das war sehr gut für unseren Bekanntheitsgrad. Wir konnten genau beobachten, dass viele Neukunden sich als Erstes gerade diese Szenen herunterluden. Wir würden unser Archiv gut indexieren müssen, damit auch Neulinge unseres Kundestammes die Bilder der Vergangenheit finden können. Zu diesem Zweck würden wir einen Katalog und eine Art Suchmaschine brauchen, unsere Szenen in Handarbeit indexieren und mit Stichworten versehen müssen und für ein gutes Copyright, gleichermaßen für unsere Zweit- und Drittverwerter, sorgen. Je besser es läuft, desto mehr Arbeit hat man. Verdammt. Und an alles muss man selber denken.

Für spätere Programmerweiterungen merkte ich mir vor, dass Paul Palins Kommentar sowie (in geringerem Maße) die anderen beiden Kommentare und selbst einige Anmerkungen, die später hinzugekommen sind, nachträglich von freiwilligen Helfern in viele Sprachen übertragen werden sollten. In Zukunft, darüber wird noch zu berichten sein, werden wir einen professionellen Dolmetscherdienst für gute Kommentare aufbauen; besonders wichtig scheint mir die Dolmetscherfunktion bei Live-Übertragungen, nicht nur für Archivmaterial. Zum einen haben alle Zuschauer ein Anrecht auf Information, so sehr wollen wir not evil sein, zum anderen möchte ich selber wissen, was welche Kommentatoren von sich geben in den Sprachen, die ich nicht selbst verstehe. Ich bin schließlich von Gesetzes wegen gezwungen, über mein Unternehmen laufend informiert zu sein. In manchen Ländern gibt es Gesetze zu Haftungsfragen und Verleumdung, das glaubt man gar nicht. Darüber hinaus wäre ein solcher Dienst für andere Zwecke nützlich, natürlich, denn wenn man so einen Dienst erstmal aufgebaut hat, kann man viel mit ihm anfangen. Sogar Geld verdienen. Ich komme später darauf zurück.

Ich verstehe bis heute nicht, warum die Russische Föderation bei dem Medienecho wegen unserer Bilder und der Verletzung ihres Luftraumes keinen Protest eingelegt hat. Ich nehme es zur Kenntnis und werde es nicht wiederholen. Jedenfalls nicht ohne einen guten Grund. Manche Leute sagen, dass die Russen untätig geblieben sind, weil sie gegen die indigenen Völker des Nordostens eine Unterdrückungskampagne starten wollten. Ich weiß ehrlich nicht, wie man denen das Leben noch schwieriger machen könnte. Andere behaupten, die Russen hätten keine Kapazitäten frei, um die Beringstraße zu überwachen, und stellten sich lieber taub, als diesen Umstand zuzugeben. Vielleicht, aber meckern hätten sie dennoch können und sie hätten uns ohne Probleme woanders, nämlich dort, wo es uns wehtut, treffen können. Wir wollten schließlich was von ihnen. Wir wollten Sibirien überfliegen und den Ural und die Krim und die Polarregionen an der Grenze zu Norwegen und, und, und… Wie dem auch sei, wir sind gut davongekommen.

Was mir allerdings am meisten zu denken gab, ist, dass Paul Palin wegen seines angeblich tierfeindlichen Kommentars mit Todesdrohungen überschüttet wurde. Das war das erste Mal, dass radikale Umweltschützer an unserer Berichterstattung im weitesten Sinne Anstoß nahmen. Ja doch, ich meine unsere Berichterstattung, denn für mich war Paul Palin einer von uns: Er kommentierte unsere Bilder. Er sprach zu und für unsere Kunden. Er zahlte seine Beiträge für unsere Bilder und bekam seinen Anteil von dem, was wir mithilfe seiner Stimme weiterverkauften. Es galt nun zum einen aufzupassen, dass die wütenden Wüteriche uns nicht mit all unseren Kommentatoren verwechselten oder gleichstellten, denn sonst würden wir bald nur noch Feinde haben. Wir konnten unmöglich alle Live-Kommentare zu unseren Bildern kontrollieren, geschweige denn zensieren! Mir war bisher nicht klar, wie wir diesbezüglich vorgehen mussten, aber die Gefahr war nicht von der Hand zu weisen. Zum anderen mussten wir Paul Palin unsere ganze Solidarität, Unterstützung und vor allem jeden erdenklichen Schutz bieten. Wie wir diese zwei Ziele, Distanz zu unseren freien Mitarbeitern auf der einen Seite und Solidarität mit ihnen auf der anderen, jemals vereinen würden, war mir jedoch nicht klar.

Zum Glück für Paul Palin war sein Name, wie sich alsbald herausstellte, tatsächlich ein Pseudonym. Unglücklicherweise war seine Stimme so charakteristisch, dass ihn jemand erkannte und seinen richtigen Namen öffentlich machte. Fortan war sein Leben eine Mischung aus Salman Rushdies Leben nach der fatwa des Ayatollah Khomeini gegen ihn und aus Roberto Savianos Leben nach der Veröffentlichung des Buches Gomorrha. Mir blieb nur zu hoffen, es würde nicht auch sein persönliches Umfeld treffen, wie es damals Salman Rushdies Übersetzer und Verleger traf. Denn dieses Umfeld waren in erster Linie ja wir.

Es sollte etwas komplizierter werden.

i Vgl. Andrew Darby, „Harpoon. Into The Heart Of Whaling“, Da Capo Press, Perseus Book Group, Cabridge, MA, 2008, S. 24.
ii Vgl. Mark Brazil, The Japan Times, 17. Juli 2008, S. 13.
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