LXI. Fort

Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.i
Carl Schmitt

Wir flogen davon, zunächst nach Osten über die hohen postsozialistischen Bauten jenseits der ehemaligen Mauer, vor denen bereits viele in Flammen standen, über die vielen grünen Parks Berlins hinweg, bis wir die – von oben betrachtet sehr abrupte – Stadtgrenze erreichten. Vor der Grenze Häuser und Straßen, dahinter bis zum Berliner Ring nur Gras und Feldwege, hieran anschließend die immer spärlicher besiedelte, eintönige Landschaft Brandenburgs. Wir flogen in 500 Metern Höhe, was angesichts unserer Länge von 300 Metern von unten nicht sehr hoch aussah, von oben allerdings, wenn man nach unten blickte, sehr tief wirkte. Die Menschen, die wir nach wie vor sahen, waren nicht als Individuen zu identifizieren, nur als kleine Flecken, ich konnte ohne Feldstecher die Marken der meisten Autos nicht auseinanderhalten. Die brennenden Gegenstände jedoch, es gab zunehmend mehr von ihnen selbst in den dünn besiedelten Gebieten, die ich zu überfliegen versuchte, waren gut auszumachen.

Zum Glück war das Wetter weiträumig ruhig und sonnig. Die Hyperborea glitt leise durch die Lüfte, ähnlich einem Eisberg – von unten aus gesehen – der über einen ruhigen Ozean schwebt. Das Vorankommen erscheint mühelos. In Bezug auf die Route standen uns mehrere Alternativen zur Verfügung. Ich sah ein Tiefdruckgebiet über Schottland, das sich relativ schnell auf das Festland zubewegte, und eine thermisch bedingte Instabilität zwischen den Pyrenäen und den Alpen. Selbige war in ihrer Lage stabil: Den ganzen Tag lang bildeten sich ständig neue Wolken über Frankreich, diese entluden sich am Nachmittag in den Bergen und an der Mittelmeerküste mit Blitz und Donner. Der Weg zwischen beiden Tiefdruckgebieten würde bei dieser Dynamik kontinuierlich enger werden und über dicht bewohntes Gebiet führen, das erschien nicht ratsam. Ich beschloss, nördlich von dem Schottland-Tief in Richtung Grönland zu fliegen, um dann vor Island, wo bereits das nächste Tief wartete, Kurs nach Süden über den hoffentlich freien Atlantik nehmen zu können. Der Weg führte von Brandenburg zunächst über Mecklenburg, dann an der Küste entlang, bis wir südlich der Insel Lolland die Halbinsel Jütland ansteuerten und sie in direkter Route zur Nordsee auf der Höhe des Nord-Ostsee-Kanals überquerten. Über der Ostsee hatten wir brennende Schiffe gesehen, über Jütland brannten Autos und Häuser, wir sahen viele Rauchsäulen. Mittlerweile wurde es dunkel, man sah die Feuer besser, aber keine Menschenpunkte mehr und auch keinen Rauch. Wir flogen langsam: Sven Maven war ein ausgezeichneter Pilot, er wusste schon, warum er vorsichtig flog. Ich meine, seine Flugbegabung lag gleichermaßen an seinen Augen, er hatte einen guten Blick, wie beim Entwerfen und Konstruieren von Apparaten. Er war mit der Steuerung beschäftigt, das war wohl gut so. Seine mächtigen Kiefer kauten, an seinen Schläfen spannten sich Muskeln:

„Wenn wir jetzt die Rotation des Tiefs optimal ausnutzen, tragen uns die Wolken über Nacht gut verdeckt mit wenig eigener Motorleistung um die Britischen Inseln herum. Morgen früh bei Sonnenaufgang haben wir demnach eine gute Energiereserve auf hoher See.“

Ich nickte nur.

Sven Maven flog die Hyperborea von Hand, direkt über seinen iTempt™. Der große Zentralrechner, Deep Doubt, war bisher nicht völlig konfiguriert, viele Kilometer Kabel nicht verlegt, Hunderte von Sensoren, die der Computer brauchen würde, waren noch nicht mit ihren Treibern verbunden, mussten kalibriert werden und die Bewegung der Motorengondeln war ebenso wenig programmiert. Sven Maven regulierte den Vortrieb, so einfach es ging, mit der Geschwindigkeit der Motoren und kaum mit deren Angriffswinkel. Dank seines Gleichgewichtssinns blieb unser Flug in der zumeist günstigen Wetterlage ruhig. Sven Maven war trotzdem nicht zufrieden.

„Warum arbeitet die Schaukelbremse nicht anständig? Wo ist Nicco?“

Tja, er war in Rom, glaube ich. Mit Berberitza Merryodd. Uns beschäftigten andere Sorgen: Wohin gehen? Ich schaute in die Karte auf meinem iTempt™, meine geliebte Frau an meiner Seite. Mit dem Finger zeichnete ich die Route an, die mir vorschwebte. Nach kurzer Bedenkzeit nickte sie. Klaus Klaasen hatte gerade nichts anderes zu tun, als aus dem großen Fenster vor uns zu schauen, mit einem Feldstecher in der Hand und gesenktem Kopf. Eine unangenehme Stille entstand, als ob uns jetzt klar würde, dass unter uns etwas Unheimliches dabei war, seinen Lauf zu nehmen. Wir flüchteten aufs offene Meer und ich zeigte Sven Maven auf der Karte auf meinem iTempt™ den Weg. Er hob die Schultern, zog die Mundwinkel nach unten und hob die Augenbrauen. Das bedeutete ein Ja. Ich übernahm das Kommando. Ich war der Boss, daher war es mein Schiff. Als erstes schickte ich Herrn Klaasen in die Küche, um etwas zu kochen. Er sollte die Küche untersuchen und aus den Vorräten etwas Essbares, Warmes und, wenn es ging, Genießbares zubereiten. Er kam der Aufforderung erleichtert nach, scheinbar zufrieden, dass er endlich etwas tun durfte, als ob er auf einen Befehl gewartet hätte. Er ging aus dem Raum heraus in Richtung Küche in das Innere der Gondel.

Sven Maven schaute auf die vielen Monitore, die er ringsum aufgebaut und mit seinem iTempt™ verbunden hatte. Wir hatten die Außenkameras am eigenen Schiffsrumpf, die Bilder der Vendobionten über uns, die der Augen vor uns und um uns herum, zum Teil mit Wärmebildern, und wir verfügten über unser bordeigenes Radar. Zunächst schauten wir auf nichts anderes, wir hatten uns stillschweigend geeinigt, nicht auf die Bilder der Zerstörung zu achten, die – das hatten wir schnell mitbekommen – weltweit rasch um sich griff. Später würde ich ausprobieren, ob meine Autorität nicht nur ausreicht, um Aufgaben zuzuteilen und Routen zu bestimmen (wobei mir meine geliebte Frau durch ihre Zustimmung sehr geholfen hatte, zu zweit bildeten wir schon die Hälfte der Belegschaft), sondern auch um die Nachrichten aus der Außenwelt zu sperren, und wenn ja, wie lange. Ich wollte zunächst selber nachsehen, ich hatte den Eindruck, dass das, was ich zu sehen bekommen würde, dem Rest der Crew besser nur erzählt werden sollte. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, ich glaube, das ist verständlich. Man könnte es auch Angst nennen. Herr Klaasen kam aus der Küche zurück mit einer großen Pfanne Kartoffelpüree und eine Platte mit paniertem Schnitzel, die sich als in der Mikrowelle erhitzte gefrorene Hühnerbrüste à la cordon bleu entpuppten. Jetzt war es an mir, zu seufzen…

i Carl Schmitt, „Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität“, Duncker & Homblot, 1985, Berlin, S. 11.

 

zurückvor