LXVII. Vulkane in den USA

Und es geschah, wenn ephraimitische Flüchtlinge sagten: Laß mich hinübergehen! – Dann sagten die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Und sagte er: Nein! – So sprachen sie zu ihm: Sag mal: Schibbolet! Und sagte er: Sibbolet! – und brachte er es nicht fertig, richtig zu sprechen, so packten sie ihn und schlachteten ihn an den Furten des Jordan. So fielen in jener Zeit von Ephraim 42.000 Mann.
Richter, XII, 5-6

When you’re in a hole, stop digging.i
Donald Rumsfeld
Amerikanischer Verteidigungsminister, 1975-77 und 2001-2006

 

Im August 2029 (wir waren mit der Fertigstellung der Hyperborea noch lange nicht fertig) brach darüber hinaus in Yellowstone ein Vulkan aus, zunächst zaghaft, zwei Wochen später, als die neuen Vulkane in Kalifornien ein wenig nachließen, zwar ziemlich heftig, aber weit unter der Schwelle dessen, was Geologen als Supervulkan bezeichnen und für die Gegend um Yellowstone seit Längerem vorhersagten. Die USA versanken im Chaos, New York lagt unter einer bis zu einem halben Meter mächtigen Staub- und Ascheschicht begraben. Chicago ebenfalls. Dabei liegen beide Städte sehr weit von den Vulkanen entfernt! Die gesamte Ernte des nordamerikanischen Kontinents scheint für nächstes Jahr nicht mehr aussäbar zu sein, die Ernte dieses Jahres ist unrettbar verloren. Ganze Wälder brennen in Kanada ab. Kalifornien war von einer dermaßen dichten Rauchwolke bedeckt, dass die Augen nur in geringem Maße übertragen konnten: Sie bekamen kaum ausreichend Energie von der Sonne, so dass sie sich gegenseitig andauernd ablösen mussten. Hierzu entwickelte meine geliebte Frau in der Not Bewegungsmuster nach dem Beispiel der Mauersegler im Gewitter: Wir flogen die Augen mit dem Wind hinein und versuchten, sie eine Weile an der Stelle zu halten, die uns interessierte, um sie dann, wenn die Energiereserven nachließen, mit Hilfe des Windes wieder aus der dunklen Zone heraustreiben zu lassen. Diese Methode ist der Methode entlehnt, die wir vor vielen Jahren bei der Kokos-Insel angewandt haben, jene Insel, die so bewölkt war, dass die Augen nicht genug Strom erzeugen konnten. Die Augen konnten jetzt aus einem weiteren Grund nicht lange in diesen Gegenden bleiben: Die Asche zerstörte sowohl die Oberfläche der Außenhüllen, die matt und somit lichtundurchlässiger wurden, wie auch die Optik der Kameras. Die Motoren ließen sich schlechter schwenken, die Manövrierfähigkeit nahm ab. Die Quellen im Internet prophezeiten einen weltweiten nuklearen Winter und sauren Regen. Die Menschen, die sich nicht in den ersten Tagen in Sicherheit gebracht haben, werden es nicht leicht haben. Die Folgen des Ausbruchs waren global spürbar. Viele Augen waren beschädigt oder zerstört; die, die noch intakt schienen, versuchten wir, fern der mit Asche bedeckten Region zu halten. War ein Auge allerdings bereits beschädigt, schickte ich es gern nach Kalifornien und in den Mittleren Westen der USA. Wir erfuhren immer weniger aus erster Hand und das gefiel mir nicht. Ich hatte den Eindruck, das Internet wurde zunehmend unzuverlässiger, und das will schon etwas heißen!

Aus den neuen Bildern und alten Aufzeichnungen versuchte ich, mir ein Bild zusammenzureimen. Ob dieses imaginäre Bild der Wirklichkeit einigermaßen entsprach, ließ sich in dieser interessanten Zeit nicht feststellen. Jahre später würde ich zum Beispiel noch herausfinden, dass zwei Geologen aus Santiago de Chile vor wenig mehr als zwanzig Jahren beobachtet haben wollen, dass sich im Pazifik – dort, wo in Kalifornien eine Vulkanlandschaft entstanden ist – große Spannungen in der pazifischen tektonischen Platte aufgebaut haben sollten.ii Hierbei handelt es sich um genau die Vulkane, die erneut ausbrachen, als Yellowstone endlich nachließ.

Alles in allem war die Zerstörung aus der Ferne betrachtet aber nicht so schlimm, wie ich mir in meinen schlimmsten Befürchtungen ausgemalt hatte. Das Problem schien mir eher darin zu liegen, dass die betroffenen Menschen falsch und unverhältnismäßig reagierten. In erster Linie wurden die Kommunikationswege und die Landwirtschaft behindert. Das ist natürlich schlimm, die Panik hingegen, die ein möglicher Mangel hervorrief, war viel folgenschwerer als der hypothetische Hunger, den der Mangel hätte verursachen können. Das Horten und Hamstern waren verständliche Reaktionen, aber dessen Wirkung kontraproduktiv. Wieder das Herdenverhalten. Wenn die Straßen unpassierbar sind, ist es sinnlos, das eigene Auto den bereits liegen gebliebenen Blechkolonnen hinzustellen. Insbesondere wenn man kein Benzin hat und nicht weiß, wo man welches besorgen kann. Wenn man mitten in einer mit Asche bedeckten Wüste mit seinem Fahrzeug liegen bleibt, muss man zu Fuß weitergehen. Da wäre man zu Hause nicht schlechter dran, schien mir damals und scheint mir noch heute. Sind die Straßen verstopft, kommen die Versorgungslaster nicht durch. Weder die Tanklastwagen mit dem Benzin noch die mit den Lebensmitteln. Als schließlich die Stromversorgung zusammenbrach, wurde es eng.iii Dabei hielt die Vulkanaktivität nicht lange an, aber es reichte, um die menschliche Routine nachhaltig zu erschüttern.

i „Wenn man sich bereits in einem Graben befindet, sollte man mit dem graben aufhören.“
ii Vgl. Valérie Clouard und Muriel Gerbault, in Earth and Planetary Science Letters, Bd.265, S.195, 2008.
iii Vgl., Steven Pinker, “The Stuff Of Thought. Language As A Window Into Human Nature”, Penguin Books, 2007, S. 365: “A rat will also attack another rat if a reward such as food is suddenly withdrawn, presumably an adaptation to the sudden theft of food, space, or other resources by a fellow animal. The underlying brain circuits have been conserved in human evolution. When this pathway is electrically stimulated in neurological patients during brain surgery, they experience a sudden intense rage.”

 

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