CVI. Ende

Dieu me perdonnera, c’est son métier.i
Heinrich Heine
angeblich seine letzten Worte.

Morgen ist der Tag, an dem Apophis erneut an der Erde vorbeischrammen soll, vorausgesetzt, die alten Berechnungen der Astronomen stimmen und wir haben uns während all dieser Jahre nicht verzählt. Das kann leicht passieren, wenn man die Erde fortwährend umrundet: Je nachdem, in welche Richtung man um die Erde reist, muss man einen Tag hinzurechnen oder abziehen, wie jedes Kind weiß, das Jules Vernes Reise um die Erde in 80 Tagen gelesen hat, und da wären des Weiteren die Schaltjahre zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu Phileas Fogg umrundeten wir die Erde tendenziell eher nach Westen, unsere Tage wurden länger, aber der Kalender blieb fix (wie der Inspektor im Roman). Die Hilfe von elektronischen Kalendern gibt uns allerdings doch eine ziemliche Sicherheit: Sofern man sie ununterbrochen mit Strom versorgt, erinnern uns die elektronischen Helfer sogar an den lange nicht mehr relevanten Wechsel zwischen Sommer- und Winterzeit. Sie übernehmen die Rolle des Dieners Passepartout, der sich während der ganzen Weltreise weigert, seine Uhr anzupassen, um am Schluss recht zu bekommen, ohne es gleich zu merken. Daraus ist zu folgern, dass Passepartouts Uhr die Uhrzeit, nicht jedoch das Datum anzeigt. Da waren unsere iTempts™ besser. Nun, Apophis…! Mangels ausreichender astronomischer Kenntnisse haben wir trotz unseres kleinen 5-Zoll-Teleskops auf der oberen Beobachtungsstation der Hyperborea nicht danach Ausschau halten können; wohin hätten wir mit dem Gerät auch zielen können? So groß, dass man ihn mit bloßem Auge sehen könnte, ist der Meteorit nun wieder nicht und der Nachthimmel erscheint unendlich. Die Punkte, die ich mit dem Feldstecher und dem Teleskop von der Beobachtungsstation auf dem Dach aus sehe, mögen Apophis sein oder etwas anderes. Selbst wenn ich Apophis ausmachen könnte, wäre ich nicht in der Lage, aus den Beobachtungen seine Umlaufbahn zu berechnen. Das Schiff ändert stets seine Lage und schwankt und wackelt immer ein wenig trotz des Ausgleichsmechanismus den Sven Maven die Schiffsschaukelbremse zu nennen pflegte. Seit Jahren haben wir niemanden mehr gesehen oder gesprochen, niemand kann keine Vermutung bestätigen oder widerlegen, keiner kann mir eine Berechnung erklären (ach, wie vermisse ich die Möglichkeiten, die Geld aus der Arbeitsteilung herausholen konnten!), aber es bleibt die diffuse Möglichkeit, dass die Internet-Auguren recht gehabt hatten und Apophis morgen auf die Erde fällt. Wenn dem so ist, wird diese Geschichte keine Fortsetzung haben, was ohnehin egal ist, weil sie offenkundig eh keiner lesen wird. Darum trinken meine geliebte Frau und ich heute Abend einige unserer hochgeschätzten Flaschen Champagner, gönnen uns als Vorspeise den schönsten filetierten Fisch aus unserer Tiefkühlkammer und zelebrieren ein letztes Abendmahl. Ich habe mich bemüht, extrafrische Austern und Entenschnabelmuscheln zu besorgen, indem ich mich, während meine geliebte Frau das Schiff steuerte, mit einem Seil knapp über der Meeresoberfläche an der Steilküste Kantabriens hängen ließ. Ich bekam Lust zu schnorcheln und holte bei der Gelegenheit einige Dutzend Seeigel von den Felsen, ein paar Krebse, einen Eimer mit Miesmuscheln. Dazu Algen für den Salat. Das Meer riecht gut, von den vielen Ölverschmutzungen merke ich nichts. Was nichts bedeutet, ich weiß; die toxischen Ölrückstände sind oft geruchlos, scheinen das Wachstum der Meeresorganismen nicht zu beeinflussen und schmecken nicht einmal abstoßend, verursachen aber Krebs. Heute kümmert es mich nicht.

Ich habe mit verschiedenen umgebauten Augen Mangos, Papayas, Äpfel, Zitronen und Orangen gepflückt und sie in die Hyperborea gebracht, vier weitere Augen habe ich mit Reusen zur Hummerfalle umfunktioniert und damit drei recht ansehnliche Exemplare gefangen; und da in der Nordhälfte des Planeten Frühling ist, habe ich mit dem Gewehr aus der Luft ein kleines junges Zicklein erlegen können (es hatte keine Chance), das nun seit Stunden gebraten wird. Auch zwei Enten habe ich schiessen können, darüber freuen sich die Katzen und Foc ganz besonders. Die Keulen sind für uns, die Brustfilets für die Tiere. Aus der tiefgekühlten Vorratskammer: Kartoffeln, Karotten, Erbsen, Artischocken, dazu Nudeln als Luxusbeilage. Zwiebeln und Knoblauch für den Zickleinbraten, mit Thymian, Lorbeer und Rosmarin – ein ganz einfaches Rezept. Es gibt verschiedene Salate dazu, mit Öl und Essig aus schlecht gewordenem Wein, mit Kräutern gewürzt, manche aus Algen, andere mit Pinienkernen, mit den Lebern der Enten, kurz angebraten in Madeirawein, oder mit sautierten Hummerstückchen und gestückelten rohen, reifen Avocados. Der Hund und die Katzen haben schon lange nicht mehr so in der Kombüse gebettelt, sie haben viel vom rohen Zicklein und von den gebratenen Entenbrüsten abbekommen und schlafen mittlerweile längst. Von der Avocado haben sie natürlich nichts abbekommen, die ist für sie giftig.

Wir essen zunächst schweigsam, ich verliere mich in Erinnerungen. Ich träume davon, was ich früher Leckeres hätte zubereiten können mit ausgefalleneren Zutaten und frischen Gewürzen. Heute schmeckt es auch, aber unser Mahl ist nicht mehr so raffiniert, wie ich es seinerzeit zubereitet hätte. Als Ausgleich ist die Menge beinahe obszön: Hummer als Vorspeise, in einem Muschelfond mit Karotten, Zwiebel und Lorbeer gekocht, mit einer leichten Sherrysoße verfeinert, dazu ein spritziger Weißwein; Austern und leicht gedämpfte Entenschnabelmuscheln als Zwischengericht (dazu Champagner); anschließend wieder Fisch mit Kartoffelgratin (die Béchamelsoße aus Milchpulver, ohne Ei, die Kartoffeln aus eingefrorenen Beständen, nicht mehr ganz bissfest – das ist mir nicht gelungen) und Algensalat mit noch mehr Champagner; dann die Entenschenkel mit Artischocken, mit Sesamsamen gewürzt, begleitet von einem selbst angebauten Salat und obendrein Obstsalat (dazu Rotwein) und zum Schluss das Zicklein, zart und lange gebraten, mit Mandeln, Äpfeln, Dörrpflaumen, Pinienkernen und Mangostücken, gewürzt mit einer Prise Zimt, zusammen mit dem restlichen Gemüse, dem restlichen Rotwein, dem restlichen Salat und abschließend noch mehr Champagner. Es schmeckt alles pur, ein bisschen wie die einfache toskanische Küche: Die Speisen schmecken nach sich selbst, werden nicht von fremden Geschmacksnoten überlagert. Es bleibt wenig zu sagen. Ein Digestif, um völlig betrunken zu werden: Kräuterschnaps für meine geliebte Frau, Whisky für mich. Nachtisch erübrigt sich, das übrig gebliebene Obst bleibt liegen. Jetzt will meine geliebte Frau doch wissen, wie es wäre, wenn Apophis auf die Erde träfe.ii

„Das hängt von einigen Faktoren ab.“ Über dieses Thema könnte ich stundenlang reden. Was alles passieren könnte! Mal sehen, wie lange sie es aushält, bis sie einschläft. „Zum Ersten muss man wissen, welche Masse Apophis hat. Vor sieben Jahren schätzte man Apophis auf 7,5 x 1010 kg. Des Weiteren hängen die Folgen von der Geschwindigkeit ab, mit der Apophis auf der Erdoberfläche einschlägt. Die Fluchtgeschwindigkeit auf der Erdoberfläche beträgt 11,2 km/s, das entspricht der Geschwindigkeit, mit der ein Körper senkrecht nach oben abgeschossen werden muss, damit er das Schwerfeld der Erde verlässt, salopp gesagt, damit er nicht wieder auf die Erde fällt. Da einfache kinematische Prozesse reversibel sind, ist das gleichermaßen die Geschwindigkeit, mit der im Prinzip ein Körper aus dem Unendlichen auf die Erde fällt. Umgerechnet über 40.000 km/h“

„Im Prinzip?“ fragte meine geliebte Frau und trank noch einen Schluck.

„Im Prinzip. Es gibt kleine Unterschiede, wenn Apophis die Erde nicht mittig trifft. Wenn Apophis zum Beispiel die Erde am Äquator eher tangiert als voll trifft, kann die relative Geschwindigkeit der Erde zu Apophis aufgrund der Erdrotation um maximal 0,46 km/s höher oder niedriger liegen, je nachdem, ob Apophis die Erde links oder rechts von der Mitte trifft. In „Fahrtrichtung“ links müsste man am Äquator aufgrund der Erdrotation 0,46 km/s den 11,2 km/s hinzuaddieren, rechts müsste man analog dazu maximal 0,46 km/s abziehen. Das ergibt demnach eine Geschwindigkeit von maximal 11,62 km/s und minimal 10,74 km/s. Hinzu kommt die Bewegung der Erde um die Sonne. Die mittlere Bahngeschwindigkeit der Erde beträgt sage und schreibe 29,78 km/s oder weit über 100.000 km/h. Da die Erdbahn eine sehr runde Ellipse darstellt, schwankt dieser Wert ein wenig.“

„Ein runde Ellipse?“

„Ja, die Exzentrizität der Erdbahn ist sehr gering, der Unterschied zwischen der großen und der kleinen Halbachse der Erdbahn beträgt kaum ein Prozent.“

„Ach ja, wie bei der Installation in der Chausseestrasse.“ Mittlerweile bin ich ziemlich blau. Ich hoffe, meine Ausführungen sind noch nachvollziehbar und nicht zu neunmalklug. Meine geliebte Frau muss mindestens genauso blau sein wie ich. Jetzt nicht den Faden verlieren. Ich muss mich zusammenreißen und keine abgehobenen Fachwörter gebrauchen.

„Apophis gehört zum Aten-Typ der Asteroiden, benannt nach dem ersten Asteroiden, der mit diesen Eigenschaften entdeckt wurde: eben Aten. Es handelt sich bei Meteoriten dieses Typs um Erdkreuzer, also Asteroiden, die die Erdbahn kreuzen. Deshalb besteht Kollisionsgefahr. Und es sind viele.“

„Und was hat das mit der Sonne zu tun?“

„Die Sonne? Ach ja, die Erde dreht sich um die Sonne. Apophis dreht sich in die gleiche Richtung, deswegen werden sich ihre Geschwindigkeiten im Falle eines Zusammenstoßes nicht addieren, aber leider auch nicht aufheben. Apophis wird wie ein Stein fallen und zwar, wie vorhin berechnet, mit 11,2 km/s, mit einer Fehlermarge von 0,46 km/s. Die Bahngeschwindigkeit der Erde verursacht einen kleinen zusätzlichen Fehler. Aber sofern man das Problem allgemein betrachtet und sich nicht auf Apophis beschränkt, kann der Fluchtgeschwindigkeit von 11,2 km/s und der tangentialen Drehgeschwindigkeit der Erde von 0,46 km/s eine Geschwindigkeit von bis zu 29,78 km/s, im Sommer in der Nordhalbkugel ein wenig mehr, im Winter ein bisschen weniger, hinzuaddiert werden. Maximal also etwa 42 km/s oder über 150.000 km/h.“

„Das ist viel.“

„Das ist sehr viel. Apophis dürfte allerdings nur um die 40.000 km/h schnell sein. Was ebenfalls sehr viel ist.“

„Ja.“ Meine geliebte Frau klang bereits sehr müde. Ich glaube, ich schweife ab, hinzu kommt, dass ich vermutlich nuschele. Kommen wir zur Sache:

„Ausschlaggebend für die Folgen des Einschlags ist in erster Linie die kinetische Energie, die dabei freigesetzt wird. Die Formel für die kinetische Energie ist sehr einfach: E = ½ mv2. Ein Halbes der Masse Apophis’ (in Kilogramm) multipliziert mit seiner Geschwindigkeit (in Metern pro Sekunde) zum Quadrat. Also!“

Ich nahm meinen iTempt™ zur Hand.

„7,5 x 1010 kg mal 11.200 m/s mal nochmals 11.200 m/s ergibt 9.408 x 1015 kg m2/s2, also 9,4 x 1018 Joule.“

„Das klingt wieder nach viel.“

„Eine Kilotonne TNT entspricht 4,184 x 1012 J, das sind summa summarum…, mal sehen, was der iTempt™ sagt…:22.485.650 Kilotonnen TNT.“

„Zweiundzwanzigmillionenvierhundertfünfundachzigtausend… Wie viele Kilotonnen hat eine Atombombe?“

„Die Hiroshima-Bombe besaß eine Sprengkraft von etwa 15 Kilotonnen, die größte jemals gezündete Bombe, die Zar-Bombe, eine Wasserstoffbombe der ehemaligen Sowjetunion, entwickelte eine Sprengkraft von etwa 50 Megatonnen oder 50.000 Kilotonnen.“

„Also hat Apophis viel mehr…“

„Ja. Etwa 1.500.000 Hiroshima-Bomben oder 4.500 Zar-Bomben.“

„Zum Glück ist das nur eine Annäherung.“ Meine geliebte Frau wirkte nachdenklich, nicht mehr alkoholisiert. Wir waren kurz davor, in Galgenhumor zu verfallen.

„Das ist eventuell nicht so viel, wie es sich anhört, Apophis ist relativ klein. Die Energie wird sehr lokalisiert freigesetzt, je nachdem, wo Apophis aufschlägt, kann es 500 Kilometer weiter ziemlich sicher sein. Oder es wird auf der ganzen Erde Verwüstungen geben. Damit sind wir beim zweiten Faktor: Wo schlägt Apophis ein? Ich könnte die Einschlagstelle nicht berechnen, zu diesem Zweck müsste ich die Umlaufbahn verfolgen und unser Teleskop ist dafür nicht gut geeignet. Vor allem, weil sich die Hyperborea selber bewegt, da kann man keine Bahnberechnungen durchführen. Aber ich wüsste, ehrlich gesagt, auch gar nicht, in welche Richtung ich das Teleskop zu richten hätte, um Apophis zu finden.“

„Es ist doch sowieso egal, da wir nichts dagegen unternehmen können.“

„Eben!“

„Und was passiert dann?“

„Nun, wie gesagt: Das hängt sehr stark davon ab, wo Apophis einschlägt. Grob gesagt, beträgt die Chance, dass Apophis auf Land oder sehr flaches Wasser trifft, etwa ein Viertel. Drei Viertel der Erde sind vom Meer bedeckt, ja?“

„Aha.“

„Dann trifft Apophis auf die Erde mit 11,2 km/s, mehr oder weniger, und setzt auf einen Schlag die Energie von 1.500.000 Hiroshima-Bomben frei. An der Stelle, wo der Einschlag stattfindet, kann nichts und niemand entkommen. Apophis fällt so schnell, dass er von den höchsten Wolken, die man sehen kann, bis zur Erdoberfläche nicht einmal eine Sekunde benötigt – anders, als in den alten Katastrophenfilmen gezeigt, wo es meist eine ausgedehnte Flugbahn zu bewundern gab, mit einem Schweif aus Staub und Rauch. Auf seinem Weg nach unten wird die Luft lokal extrem verdichtet, weil sie keine Zeit hat, seitlich auszuweichen. Die Kompression erzeugt Temperaturen von mehreren Zehntausend Grad Celsius, dasselbe Prinzip wie beim Selbstzünder – ein Wort, das die Situation treffend beschreibt. Das reicht aus, um die Stickstoffmoleküle der Luft zu atomarem Stickstoff zu dissoziieren, diese Stickstoffatome werden sich später mit Sauerstoff zu Stickoxiden verbinden, die mit Wasserdampf zu Salpetersäure reagieren werden. Aber vorher erfolgt der Aufprall. Dabei gräbt sich Apophis tief in die Erde, vermutlich einige Kilometer tief. Der exakte Wert wiederum hängt von dem Einschlagwinkel – je senkrechter, desto tiefer – und von Apophis’ Zusammensetzung ab: Ein Komet aus Schnee und Eis zerbröselt eher als ein Meteorit aus kompaktem Eisen. Für die Folgen jedoch ist der Unterschied zu vernachlässigen. In beiden Fällen gibt es eine gewaltige Schockwelle. Diese durchschüttelt die Erde heftig, verursacht rund um den Einschlagpunkt selbst in einiger Entfernung Erdbeben der Stärke 9 oder mehr auf der Richterskala, durchquert die Erde mit Überschallgeschwindigkeit sowohl auf direktem Weg durch den Kern, als auch durch alle Schichten dazwischen – durch die Kruste und den festen Teil des Mantels als Longitudinal- und als Transversalwelle, durch den flüssigen Teil des Mantels und durch den Kern nur als Longitudinalwelle – und kommt auf den Antipoden des Einschlagpunktes wieder zusammen. Dort rummst es ebenfalls gewaltig. Liegen die Antipoden am Meer, wird an der Stelle das Wasser richtig hochschießen. Von dort aus kann der Prozess wiederholt werden, es kann lange dauern, bis die Erde zur Ruhe kommt. Auf jeden Fall wird es jedem, der das erlebt, sehr lange vorkommen. Überall gibt es Erdbeben, vermutlich brechen erneut viele Vulkane aus.“

Meine geliebte Frau schwieg. Ich redete weiter:

„Früher oder später kommt es aber wieder zur Ruhe. In der Nähe des Einschlags jedoch ist die Verwüstung komplett. Die Luft ist extrem aufgeheizt. Der Einschlag erzeugt einen Krater, dessen Größe davon abhängt, woraus der Asteroid besteht, von der geologischen Beschaffenheit an der Einschlagstelle und vom Einschlagwinkel. So oder so fliegen Steine, Staub, Dämpfe, vor allem Wasserdampf, und geschmolzener Sand und andere Materialien viele Kilometer hoch in die Luft. Die größten Brocken verursachen beim Zurückfallen auf die Erde wieder enorme Schäden, manche fallen aus mehreren Kilometern Höhe herunter. Manche fliegen so hoch, dass sie nicht mehr auf die Erde zurückfallen, sondern selber zu Meteoriten werden. Die, die zurückfallen, erhitzen sich wie Sternschnuppen. Die Luft glüht. Eine Schockwelle breitet sich radial aus. Alles wird im Umkreis von bestenfalls einigen hundert Kilometern zerstört. Alles.“

„Bestenfalls? Und schlimmstenfalls?“

„…Ist die ganze Erde betroffen.“

„Ich dachte, Apophis wäre zu klein, um die ganze Erde zu zerstören?“

„Ist er auch. Aber wenn Apophis auf ein großes Ölfeld treffen würde, zum Beispiel in Kuwait oder Saudi-Arabien oder, vielleicht noch schlimmer, in Venezuela, wo das Öl besonders schwefelreich ist, kann er viele Kubikkilometer sandiges Öl in die Luft schleudern. Dieses Öl, ein mächtiges Braunkohlelager würde es natürlich ebenso tun, fängt Feuer, aus dem Schwefel entsteht Schwefelsäure, Ruß verdunkelt das Sonnenlicht. Es gibt ein großes Artensterben. So soll es jedenfalls bei den Dinosauriern gewesen sein. Deren Asteroid war vermutlich viel größer als Apophis, aber er hätte sie nicht unbedingt ausgerottet, wenn er nicht gerade in Yucatán eingeschlagen hätte, wo damals offenbar sehr viel Schwefel im Untergrund vorhanden war – vielleicht mit Erdöl vermischt, falls es zu der Zeit schon Erdöl gab, das kann nur spekuliert werden, denn fossiles Erdöl gibt es nicht, ich meine, Erdöl ist ja eben ein Fossil, es kann nicht nochmals fossilisieren…“ Ich glaube, ich sollte mich zusammenreißen. „Egal! Der Boden in Yucatán bestand zudem aus einer mehrere Kilometer mächtigen Kalksteinschicht, die muss bei dem Schock so viel Kohlendioxid freigesetzt haben, dass es zu einem gewaltigen Treibhauseffekt kam. Vorher jedoch gab es natürlich den nuklearen Winter, weil Ruß und Staub das Sonnenlicht verdunkelt haben. So kam es wohl, dass die Dinos ausstarben. Apophis wird ebenfalls viele Spezies ausrotten, aber es werden vermutlich mehr Arten überleben als damals, vor 65 Millionen Jahren.“

„Dann waren Beatas Opfer nicht umsonst.“ Jetzt klang meine geliebte Frau ein wenig schadenfroh.

„Bei der wäre ich mir nicht so sicher. Die Menschen müssten eigentlich überleben, ich meine, wir sind eh weg, aber wenn es uns noch gäbe, könnte so ein mittelkleiner Asteroid einer Zivilisation arg zusetzen, dennoch ginge das Leben irgendwo weiter. Nach den Dinos ging es ebenfalls weiter, nur ohne Dinos, und viele Millionen Jahre später kamen wir. Diesmal hätte es auch für die Menschheit weitergehen müssen. Etwas anderes ist wohl dazwischengekommen.“

„Demnach sollte Apophis lieber nicht in Venezuela, in Sibirien oder am Persischen Golf einschlagen, aber selbst wenn, ist es nicht so schlimm.“

„Nein, lieber soll Apophis die Erde einfach verfehlen. Und falls er doch die Erde trifft, wäre es vermutlich in Australien am besten. Das wären die Antipoden, von uns aus gesehen; dort gibt es kein Öl, wenig Kalkstein, die Schäden wären lokal begrenzt. Aber selbst im schlimmsten Fall wäre es in der Tat nicht so schlimm. Nur katastrophal.“ Ich trank mein Whiskyglas leer.

„Und wenn Apophis ins Meer fällt?“

„Dann hängt es ebenfalls vom genauen Einschlagpunkt ab. Sagen wir, mitten im Pazifik, wo es richtig tief ist, möglichst senkrecht? Das gäbe einen mächtigen Tsunami. Australien, Südostasien, Ostafrika, Nord- und Südamerika würden eine Flutwelle erleben, die könnte mehrere hundert Meter hoch sein, mit zusätzlichen Sekundärwellen, der ganze Pazifik könnte wochenlang ins Schaukeln geraten. Aber selbst die mächtigste Welle würde an den Anden stoppen und den Osten Südamerikas intakt lassen. Ich glaube kaum, dass die Welle die engste Stelle in Panama überspringen würde. Das ist allerdings nur Spekulation. Die Ostsee ist flach, wenn Apophis dort einschlägt, ist es beinahe, als ob er auf Festland trifft. Und dazwischen gibt es alle Möglichkeiten.“

Wir schwiegen. Ich schenkte mir einen letzten Whisky ein. Jetzt wäre ein Kaffee gut, aber wir haben keinen mehr. Wir schauen aus dem Panoramafenster auf das Meer, man sieht die Küste Nordspaniens nicht mehr, es ist längst dunkel um uns herum geworden. Ich überlege weiter still vor mich hin, was alles passieren könnte im Falle eines Einschlags: Auf einem großen Atomkraftwerk, mit dem ganzen radioaktiven Abfall, das würde dem Begriff des nuklearen Winters gerecht werden; oder auf der Antarktis (ja, was wären da die Folgen? Eine große Eisschmelze vermutlich); oder hoch oben im Himalaja, da wäre es wohl nicht so schlimm, viel Steinschlag, ein paar Lawinenabgänge, der Yeti auch ausgerottet… So viele verschiedene Szenarien! Meine geliebte Frau schweigt ebenfalls, nachdenklich oder müde. Sie hat mich seit Monaten nicht so viel auf einmal reden hören. Ich fühle mich selbst etwas schummerig im Kopf. Kann vielleicht am vielen Essen und Trinken liegen. Ich verspüre zum ersten Mal seit Ewigkeiten Lust, eine Zigarette zu rauchen. Wenn das unsere Henkersmahlzeit war, wäre eine Zigarette passend, aber an Bord gab es noch nie welche.

Ich schwanke torkelnd auf das Sofa vor dem Panoramafenster zu und lege mich hin, meine geliebte Frau legt sich zu mir. Wir schlafen ein, während wir die Dunkelheit draußen an uns vorbeiziehen lassen, das Schiff schon lange vorher vorsorglich auf Autopilot in Richtung Azoren programmiert, viele hundert Kilometer Einsamkeit über offenes Meer.

Morgen wird ein neuer Tag anbrechen. Es wird der 13. April sein, Ostersonntag des Jahres 2036. Dann sehen wir, ob es weiter geht, und wenn ja, wie lange, und handeln dementsprechend. Als Erstes werden wir einen mächtigen Kater auszukurieren haben…

Gute Nacht, mein lieber kleiner Cherub!

i „Gott wird mir vergeben. Das ist sein Metier.“
ii Vgl. Walter Alvarez, “T. Rex und the Crater of Doom”, Princeton University Press, 1997.

 

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