Wir blieben ständig in Verbindung mit Herrn Augsburger und mit Ali, die sich im Augenblick unseres überhasteten Aufbruchs zufällig gerade wieder auf der Suche nach Meteoriten in der Antarktis befanden. Es war ihre dritte Expedition in den weißen Süden, sie waren jedes Mal mit reicher Ausbeute zurückgeflogen, hatten dabei viel über die Antarktis gelernt und die Flugfähigkeit unserer Gaia Scienza eingehend auf die Probe gestellt. Die Telemetriedaten, in Echtzeit an unsere Zentrale am ehemaligen Flughafen Tempelhof übermittelt, gaben uns Einblicke, die in den Entwurf der Hyperborea geflossen sind. Umgekehrt konnten die Ersatzpiloten vor den Monitoren die Kontrolle über die Gaia Scienza ausüben, was für die einen in Berlin eine gute Übung war, den anderen vor Ort die nötige Ruhepause verschaffte. Herr Augsburger und Ali waren schließlich nur zu zweit. Jetzt lotsten wir sie in das entlegene Gebiet, in dem wir die Hyperborea festgemacht hatten. Nach Berlin konnten sie zur Zeit nicht zurück, das war klar, und wir unsererseits konnten ihre Gesellschaft und Unterstützung gut gebrauchen. Als am zweiten Tag in der Wüste ihr Schiff am Horizont auszumachen war, brachen wir in Freudenrufe aus; wenn wir Hüte getragen hätten, hätten wir sie jubelnd in die Luft geworfen. Aber Hüte trägt man schon lange nicht mehr.
Wir hatten nicht damit gerechnet, dass, demselben Signal folgend, das wir für Herrn Augsburgers und Alis Orientierung ausstrahlten, Beata und Nicco an Bord der Kairos ebenfalls ihren Weg zu uns fanden. Bei ihrer Ankunft war zunächst die Überraschung größer als die Freude, wir fühlten uns jedoch schnell als eine geschlossene Gruppe. Jetzt stnaden uns zwei kleine Luftschiffe zum Ausschlachten zur Verfügung, mit diesen Teilen müssten wir die Hyperborea fertigbauen können. Schade nur, dass niemand Lebensmittel mitgebracht hatte. So schickten wir Beata und Nicco wieder los, um Essen und Getränke zu besorgen, während wir die Gaia Scienza langsam, Teil für Teil, in die Hyperborea einbauten. Der Unterschied bestand diesmal darin, dass wir die Kairos im Auge behielten. Ich wollte sehen, wohin Beata und Nicco flogen und was sie dort anstellten.
In jedem Team gibt es, muss es einen Chef geben. Dieser war natürlich ich, stellvertretend für mich meine geliebte Frau. Obendrein braucht jede sich formierende Gruppe einen Witzbold. Einen, der sich abends mit den anderen amüsiert, der den anderen das Gefühl gibt, sie hätten gerade etwas Witziges und Profundes zugleich gesagt. Jemand, der die Laune hebt, den jeder ins Herz schließen kann und bei dem er (oder sie) sagen kann, was ihm (oder ihr) auf dem Herzen liegt, ohne dass es ihm (oder ihr) am nächsten Tag peinlich ist. Weil die Gruppe solche Rollen braucht, werden sie vergeben, auch wenn der Ausgewählte der Rolle nicht ganz entspricht. Diese Rollenverteilung kann mitunter relativ unfair ablaufen, was beispielsweise bei der Zuteilung der ebenfalls sehr wichtigen Rolle des Sündenbocks einfach nachzuvollziehen ist. Jeder Gruppe braucht jemanden, der schuld ist, wenn er (oder sie) gerade nicht da ist. Interessanterweise merkt derjenige (oder diejenige) meistens nicht, oder wenn überhaupt erst im Nachhinein, dass er (oder sie) der Sündenbock ist. Er hält sich für wichtig, kompetent, geschätzt und anerkannt. Irgendwie ist er das auch, aber anders, als er es sich ausmalt. Diese unbeliebte und undankbare Rolle fiel Herrn Augsburger zu. Die Rolle des lustigen Zuhörers hätte dem Charakter nach eigentlich Sven Maven zugestanden, dessen Stimmung war jedoch durch den Tod seiner Frau, der ihn sehr mitgenommen hatte, getrübt. Ali sprang in die Bresche. Sven Maven würde sich noch erholen. Darüber hinaus braucht eine isolierte Gruppe einen Tüftler, einen, der etwas improvisiert und repariert. Diesen Part übernahm Klaus, zuweilen mit meiner Hilfe. Oder ich, der dann und wann Reparaturen an Klaus delegierte, je nachdem, wie man es sieht. Das war die einzige Rolle, für die es in unserer Besetzung keinen Mangel geben würde. Klaus richtete sich im Laufe der Zeit ein Labor ein, mit Reagenzgläsern und Mikroskop und sonst allem, was wir an den richtigen Stellen auftreiben konnten. Das war nicht schwer. In diesem Labor saß ich oft mit ihm – und später, nachdem er gegangen war, auch allein – und beobachtete ihn bei der Arbeit oder beim Herumexperimentieren. Ich sah zu, dass seine Experimente keine Explosion verursachen konnten, das wäre in unserer Lage misslich gewesen, ich musste aber niemals eingreifen. Wir lernten die Kunst der Destillation, es war nicht sehr gefährlich, dafür aber sozial. Die beste Aufgabe, sofern man die Begabung dazu hat, ist die des Kochs. Diese Rolle übernahm ich. Mein Urgroßvater hatte mir schon als Kind eingetrichtert, dass ein Junge kochen können muss. Zum einen, weil das bei Frauen einen guten Eindruck schindet, damit schnürt man Bände. Meine Urgroßmutter schmunzelte dazu. Zum anderen, weil im Falle eines Krieges (und er wusste, wovon er sprach, betonte er, er hatte drei große Kriege mitgemacht, obendrein zwei Revolutionen, einen Putsch und zwei Inflationen!) der Koch der Letzte ist, der verhungert. Den ersten Teil seiner Aussage konnte ich bestätigen, obwohl er mit seinen stolzen siebenundachtzig Jahren nicht mehr wie ein Weiberheld aussah, aber dass ich den zweiten Teil seiner Aussage jemals auf die Probe stellen würde, nein, das hatte ich nicht erwartet. Jetzt war es soweit. Jeder an Bord konnte sich selbst verpflegen, wie und wann er wollte, aber wer von meinem Essen haben wollte, bekam immer etwas. Ich sorgte dafür, dass wer und wann auch immer in die Küche kam, jederzeit etwas fand, was er essen konnte, er musste es höchstens aufwärmen. Aber letztendlich ist jede Rolle für jeden gut, wenn er sie erfüllen kann. Bis auf die Rolle des Sündenbocks natürlich. So arbeitete unter meinem Kommando jeder nach seinen Fähigkeiten. Klaus, Sven Maven und ich übernahmen den Großteil der technischen Arbeit. Meine geliebte Frau säte in einem Raum, den wir mit Erde ausgelegt hatten und wartete auf eine Ernte. Herr Augsburger ordnete, reinigte und stellte detaillierte Listen her. Ali half uns allen ein wenig, wenn er konnte. Beata Nalga Maloumie ging oft mit Nicco Gassi und sie taten – ihren Fähigkeiten entsprechend – am wenigsten. Die Zeit vertrieben sie sich damit, mit den Superbrillen die Bilder unzähliger Augen zu betrachten, stundenlang. Gut, dass diese Bilder süchtig machten, dachte ich im Stillen bei mir, das verschafft uns Ruhe.
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