Everybody knows that the Plague is coming.
Everybody knows that it’s moving fast.
Everybody knows that the naked man and women
– just a shining artefact of the past.i
Leonard Cohen
Everybody Knows. I’m your man
The trouble with the world is not that people know too little,
but that they know so many things that aren’t so.ii
Mark Twain
Es brachen Krankheiten aus und die Menschen starben. Stammten die Erreger tatsächlich von Apophis, wie viele behaupteten? Wie sollte man das feststellen? Man müsste den oder die Erreger isolieren, sie anschließend analysieren, um zu sehen, ob sie irdischen Ursprungs waren. Um ganz sicher zu gehen, müsste man aus dem die Erde umgebenden Staubring eine Probe entnehmen und analysieren, um dann zu prüfen, ob die Probe organisches Material enthielte, und falls ja, ob dieses Material sich mit den Erregern hier auf der Erde deckte. Wenn jemand solch eine Untersuchung in der heutigen Situation noch bewerkstelligen kann, dann wohl nur das Militär. Das Militär hat jedoch nie etwas von dem bekannt gegeben, was es jemals erfahren hat, es ist immer alles geheim. Wenn es etwas wusste, hat es sonst niemand erfahren. Sicher ist nur, dass manche Asteroiden durchaus organische Moleküle in sich tragen. Am 28. September 1969 schlug ein Meteorit 170 Kilometer nördlich der australischen Stadt Melbourne ein, nahe der Ortschaft Murchison im Bundesstaat Victoria. Einige Brocken des Geschosses, die kurz nach dem Einschlag auf einer Straße entdeckt wurden, rochen – einigen Zeugen zufolge – nach Benzin, andere wiederum sagten, nach Aceton. Beide Stoffe kann man als organische Moleküle betrachten, aber Moleküle sind keine Lebewesen. Der Meteorit wurde dem Absturzort nach auf den Namen Murchison getauft und seitdem unzählige Male untersucht: Es handelte sich um einen primitiven kohligen Chondriten des Typus CM2. Er enthielt allerlei Moleküle, die man früher als organisch bezeichnet hätte, einschließlich Aminosäuren, Diaminosäuren und einigen exotischen Molekülen. Jahre später, zu Beginn des vorläufig letzten Jahrhunderts, fing die Sonde Stardust im Schweif des Kometen Wild 2 feinste Partikel in einem Aerogel (ähnlich dem, den wir bei unseren Luftschiffen als Isoliermaterial benutzten). Als die Sonde zur Erde zurückkehrte, fand man in diesem Aerogel Spuren der einfachen Aminosäure Glycin.iii Obwohl Friedrich Wöhler bereits 1828 den fundamentalen Unterschied zwischen organischer und anorganischer Chemie widerlegt hatte, als er die vermeintlich organische Harnsäure durch Erhitzen des anorganischen Ammoniumcyanats synthetisierte, blieb die Bezeichnung „organische Chemie“ lange geläufig. Aber es gibt nur eine Chemie. Dass es ebenso lediglich nur eine Biologie gibt, kann man nur annehmen. Die Menschen erkrankten und starben weiter, die meisten anderen Tiere, mit Ausnahme der Flughunde und der Hamster, blieben unversehrt. Was haben bloß Menschen, Flughunde und Hamster gemeinsam, was andere Arten nicht haben? Gibt es vielleicht doch mehr als eine Chemie und eine Biologie, eine Extrawurst für die aussterbende Spezies Mensch? Hamster und Flughunde könnten sich verunglimpft fühlen. Die Krankheiten jedoch waren nicht alles.
Es brachen Dürren aus und die Massen hungerten. Es gab Überflutungen und die Talbewohner ertranken. Es brachen ständig neue Scharmützel und Kriege aus und die Überlebenden brachten sich gegenseitig um. Es gab Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis. Es gab Verkehrsunfälle, Attentate, Wohnungsbrände, politische und religiöse Morde. Alles schien wie immer, allerdings starben die Menschen dieses Mal schneller, als sie sich reproduzierten, und die Situation eskalierte, scheinbar weltweit. Das war neu. Nach und nach erfasste es den gesamten Planeten. Nein, diesmal war es nicht wie immer. Aber am tödlichsten waren die Krankheiten und das Morden.
Die Krankheiten waren anders, woher sie auch stammen mochten. Obwohl – so anders auch nicht: Es hatte bereits früher viele Krankheiten gegeben, die plötzlich gekommen waren, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Das „Englische Schweißfieber“iv wütete wiederholt zwischen 1485 und 1552, um dann nie wieder aufzutauchen. In diesen 67 Jahren jedoch raffte das Fieber Zehntausende dahin. Vermutlich war das Pathogen zu tödlich und zu schnell, um seine Übertragung vor dem Ableben des Zwischenwirts sicherzustellen. Die Konquistadores hatten in Südamerika die Indios beinahe durch Krankheiten ausgerottet, gegen die deren Immunsystem nicht wirksam war. Wenn die Spanier nicht dauerhaft vor Ort gewesen wären, womit sie die Ansteckung der Eingeborenen stets aufs Neue entfachten, wären die Krankheiten, die sie miteingeschleppt hatten, vielleicht auch verschwunden oder zumindest nach dem ersten Ausbruch sporadisch aufgetreten oder sogar nur latent geblieben. In England gab es offenbar keinen Überträger, der bei diesem Fieber die Rolle der Spanier als „Reservoir der Krankheitserreger“ übernehmen konnte. Ein Glück für die damaligen Engländer.
Viren waren gleichermaßen gekommen und gegangen. Im Jahre 1916 ereignete sich in Europa und Nordamerika ein solcher Fall: Die sogenannte „Europäische Schlafkrankheit“ oder „Lethargische Enzephalitis“,v eine sonderbare Schlafsucht, befiel in Laufe von gerade einmal mehr als zehn Jahren geschätzte fünf Millionen Menschen, andere Quellen geben zehn Millionen an, die einfach so einschliefen. Als Erster beschrieb Constantin Freiherr Economo von San Serff diese neue Krankheitvi: Man konnte die Patienten wecken, durchaus, und sie reagierten normal auf äußere Stimuli. Sie aßen, verrichteten ihre Notdurft, wenn dazu aufgefordert, sie antworteten zusammenhängend auf die Fragen, die man ihnen stellte, sie wussten, wer sie waren und wo sie sich befanden. Auf sich selbst gestellt, fielen sie allerdings sogleich in einen tiefen Schlaf und wurden von allein nicht mehr wach. Eine überwältigende Mehrheit der akuten Patienten (es könnte auch milde Verläufe oder asymptomatische Patienten gegeben haben) starb nach und nach an den Folgen der Krankheit und die, die sich erholten, erlangten ihre ehemalige Vitalität nicht mehr wieder, sondern blieben zutiefst apathisch, träge, ihrer Lebensenergie beraubt. Irgendwann jedoch traten keine neuen Fälle mehr auf, und die Krankheit verschwand im Laufe der 30er Jahre. Einfach so. Einzig die Opfer blieben, manche als lebende Statuen in Irrenhäusern. Sie blieben stehen wie versteinert, in welche Stellung man sie auch immer brachte.vii Erst in den 60er Jahren wurde das Medikament L-3,4-Dihydroxyphenylalanin entwickelt, auch Levodopa oder L-DOPA genannt. Damit ließen sich die Patienten, die seit einem halben Jahrhundert dahinvegetierten, aus ihrer Lethargie wecken. Leider ließ die Wirkung von L-DOPA rasch nach, die zwanzig überlebenden Patienten wurden nach und nach nicht mehr richtig wach. Die, die es merkten, litten sehr darunter und einige (wie zum Beispiel Rose R. oder Leonard L.) baten mit ihrem letzten Rest Verstand darum, nicht mehr geweckt zu werden.viii
Beinahe zeitgleich und nach Meinung einiger Fachleute mit der Europäischen Schlafkrankheit zusammenhängend, was allerdings niemals bewiesen wurde, brach im Frühling 1918 die viel verheerendere „Spanische Grippe“ aus, auch „Schweinegrippe“ genannt, obwohl diese Krankheit vermutlich in keinem Zusammenhang mit Spanien oder mit Schweinen stand. Vielleicht nannte man die Grippe „die Spanische“, weil Spanien zum Zeitpunkt ihres Ausbruchs ein neutrales Land war; aus diesem Grund wurden die Berichte zur Grippe nicht zensiert – im Gegensatz zu den Daten der anderen, Krieg führenden Länder. Es herrschte immer nach wie vor der Große Krieg in Europa, die offiziellen Stellen der Regierungen hatten anderes im Sinn, als ihre Probleme an die große Glocke zu hängen, daher weiß man nicht so viel über diese Krankheit, wie man sich heute wünschen würde. Besonders in der Dritten Welt (damals nannte man diese Länder noch einfach „Kolonien“) zählte niemand die Toten, deshalb können sich die Sachverständigen heute vorzüglich darüber streiten, ob es zwanzig Millionen oder doch hundert Millionen Opfer gab. Jedenfalls war es eine seltsame Krankheit, denn sie brach beinahe zeitgleich in der ganzen Welt aus, in Ländern, die am Krieg beteiligt waren (USA, Frankreich, Deutschland, Großbritannien), wie darüber hinaus in neutralen Ländern (beispielsweise Spanien, der Schweiz) und in den Ländern oder Kolonien Südamerikas, Asiens und im Indischen Subkontinent. Und irgendwann, nach einigen Monaten, verschwand auch diese Krankheit. Ob sie sich irgendwo in einem unscheinbaren Wirtstier verbirgt, jederzeit bereit, wieder auszubrechen, oder ob sie sich aus der Welt mutiert hat und heute harmlos ist, keiner weiß es. Als ungewöhnlich erwies sich indes die Altersstruktur der Opfer (Kinder und Alte – die üblichen Opfer einer Grippe – überlebten eher, die gesunden Menschen in der Blüte ihres Lebens wurden dahingerafft) und die Schnelligkeit des Todes, wenn er denn eintraf (und er traf sehr oft ein: In manchen Einheiten der US-Armee, wo die Autoritäten bekanntermaßen am genauesten durchzählten, erreichte die Sterblichkeitsrate 80 Prozent der Infizierten).
In letzter Zeit hatten die neuen Krankheiten mehrheitlich Tiere dahingerafft. AIDS, Ebola- und Marburgfieber und ähnliche Krankheiten machten die meisten Schlagzeilen, aber sie blieben statistisch betrachtet Randerscheinungen (zumindest in der reichen Ersten Welt). Tiere hingegen starben massenhaft, unter anderem weil man sich weniger darum bemühte, sie zu heilen, vielmehr versuchte man durch Keulen die Krankheitsverbreitung einzudämmen. BSE: Millionen gekeulter Rinder. Creuzfeldt-Jakob neuer Variante blieb beim Menschen anekdotisch – außer für die Handvoll Betroffener natürlich. Vogelgrippe: Abermillionen gekeulter Vögel. Irgendwo da draußen in freier Wildbahn gibt es ein Reservoir für Viren, die Krankheit taucht immer wieder auf, zumeist im Winter. Es entsteht immer wieder Panik irgendwo, aber die Menschen sterben noch nicht in Massen. Die Kälber in Mitteleuropa bluten sich zu Tode und keiner weiß, warum.ix Aus scheinbar intakter Haut schwitzen sie Blut, jeder Versuch, ihnen zu helfen, verschlimmert nur ihren Zustand und sie sterben schneller und qualvoller. Die betroffenen Bauern schieben die Schuld auf genetisch modifizierte Futtermittel, aber niemand kann es beweisen, oder auf die Biestmilch, wie die erste Milch genannt wird, die Kühe nach dem Kalben produzieren. Letzteres wäre schlecht, denn die Biestmilch enthält viele wichtige Antikörper für das Kalb, man sollte nicht leichtfertig grundlos auf sie verzichten. Ziegen und Schafe sterben in den Pyrenäen in Massen, die Bauern sagen hier, das läge an einer neuen Impfung gegen die Blauzungenkrankheit.x Kann sein oder auch nicht. Das Erschreckende sind nicht diese Beispiele, die sich beliebig fortsetzen ließen, sondern deren Häufung.
Die jetzige menschliche Grippe betraf in manch einem Fall nicht nur die Atemwege, sondern zusätzlich die Leber, die Nieren und – besonders oft und unvorhersagbar in den Auswirkungen für die Betroffenen – das Gehirn. Manche der Befallenen fielen ins Koma, andere wurden aggressiv, einige aphasisch oder träge und motivationslos, verfielen dem Stupor und ergaben sich dem Mutismus, wieder andere waren unkonzentriert bis katatonisch und viele wurden unruhig und böse. Die Vielfalt der Symptome ließ daran zweifeln, dass es sich um eine einzige Erkrankung, ausgerechnet auch noch die Grippe handelte, die Ärzte jedoch versicherten glaubhaft, sie hätten Proben gemacht, Antikörper verglichen, Seren extrahiert und was sonst noch alles in ihrem Repertoire zu finden ist. Von den vielen Betroffenen zeigten sich die Aggressiven als die gefährlichsten, sie richteten das meiste Unheil an. Und es wurden zunehmend mehr. Die Ärzte schrieben, dass bei den Erkrankten der präfrontale Gehirnlappen betroffen war, der für die Emotionen und die Moral zuständig sein soll. Der Mensch ist nicht, wie Hobbes sagte, des Menschen Wolf: Er ist des Menschen Mensch. So niederträchtig, schäbig, selbstgerecht und gemein (also: intelligent) braucht kein Wolf zu sein. Die Evolution hat den Wolf nicht mit diesen Attributen segnen müssen, es ist nicht einzusehen, worin der evolutionäre Vorteil für den Wolf bestanden hätte, wenn er sie aufgewiesen hätte: der Mensch dagegen, der hat sie reichlich. Den evolutionären Vorteil maß man beim Menschen zuletzt in Milliarden Einwohnern (zu viele!). Man muss den Menschen lediglich verunsichern, ihm Angst einjagen, in die Enge treiben und seine niederen Instinkte kommen aufs Böseste und Übelste zum Vorschein. Gorillas und Orang-Utans verhielten sich nicht so, Bonobos nicht, Schimpansen aber schon. Eigentlich wäre es schockierend, wenn man es nicht längst geahnt hätte. Die lieben Verwandten, je näher desto lieber… Man fragt sich, warum Bonobos dermaßen aus der Art geschlagen sind. (Sofern die Geschichte mit der matriarchalischen Friedfertigkeit der Bonobos denn tatsächlich stimmt! Die Verhaltensforscher taten sich ja auch lange sehr schwer damit, die Aggressivität der Schimpansen wahrzunehmen.)xi
Bei anderen Opfern waren darüber hinaus andere Teile des Gehirns betroffen, entsprechend variabel zeigten sich die Symptome. Wie bei einem Schlaganfall konnte jedes Verhalten, jeder Charakterzug sich ändern, jede ehemals beherrschte Fähigkeit verlernt werden.
Ob die zahlreichen Erkrankungen wirklich auf eine mutiert Art der Grippeviren zurückzuführen waren, soll dahingestellt sein; ich sehe keinen Grund, an dem Konsens der Ärzte bezüglich dieser Frage zu zweifeln. Es würde ohnehin keinen Unterschied machen, wenn es sich bei der betreffenden Krankheit um Gonorrhö oder um gewöhnlichen Schnupfen handeln sollte, solange die Übertragung nicht zu stoppen war und sie diese Morbidität hervorrief und diese Mortalität verursachte. Ohnehin gab es zu dem, was an Krankheiten Neues auf der Welt tobte, nach wie vor die alten Erkrankungen – von Krebs bis Gicht, vom Magengeschwür bis zur Bronchitis, dazu das ganze Alphabet, wie es im Pschyrembel steht: von Abart bis hin zur Zytopenie über den Umweg der Dummheit, der Krankheit mit der größten Verbreitung. Na ja, ich nehme an, es handelt sich bei Dummheit um eine Krankheit und nicht um ein Definitionsmerkmal der Menschen… Jedenfalls hatte die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, beim letzten Mal, als ich auf ihrer Webseite nachgeschaut habe, 1.477 den Menschen befallende Infektionskrankheiten aufgelistet.xii Zu dieser Zahl kommen noch die nicht ansteckenden Krankheiten hinzu: Mangelerscheinungen, genetisch bedingte Malaisen, diverse Krebsformen, Alterserscheinungen, mehr oder weniger schleichende Vergiftungen, Stoffwechselstörungen… Von den aufgelisteten Infektionskrankheiten befielen etwa zwei Drittel ausschließlich den Menschen, das restliche Drittel teilten wir mit anderen Wirtstieren, zu diesem zählte wohl auch die neue Grippe. Bei ihr sollen es sogar besonders viele unterschiedliche Wirtstiere gewesen sein, was nach Meinung einiger Ärzte angeblich die Vielfalt der Symptome erklärte: Die Krankheit entwickelte sich in ihren Augen bisweilen deswegen oft so unterschiedlich, weil der Verlauf der Krankheit unter anderem davon abhing, wie und von wem oder was man sich ansteckte. Vielleicht traten mehrere Grippen parallel auf – eine Variante stammte eventuell von wilden Zugvögeln ab, eine andere vielleicht von asiatischen Schweinen, wiederum eine andere könnte von Haustieren übertragen worden sein. Wer weiß, wie viele neue Krankheiten gleichzeitig auftreten können? Reine Wahrscheinlichkeitsrechnung! Oder es war ursprünglich doch nur eine Grippe, die besonders schnell mutiert war. Kann man von all diesen Möglichkeiten die statistische Wahrscheinlichkeit berechnen? Auch dann, wenn es sich um absichtlich gezüchtete Viren handeln sollte, die von jemandem in böser Absicht unter Menschen ausgesetzt wurden? Auch das wurde vielfach im Netz kolportiert. Ich meine, man kann jede Wahrscheinlichkeit berechnen, wenn man die Fehlerquote der Datenlage anpasst. Wie groß in dem Fall die Aussagekraft ist, steht auf einem anderen Blatt.
Die Beiträge im Internet zum Thema Grippe waren bald nicht zu überblicken, die wildesten Gerüchte kursierten. Es war klar, dass die Menschen allen Grund zur Angst hatten, ich hatte ebenfalls Angst: umso mehr, je mehr ich mich sachkundig machte, vor allem als mir bewusst wurde, dass es viele Daten gab, die unter Verschluss gehalten wurden. Die Angst, bald die Panik, berechtigt, wie sie war, wurde als selbsterfüllende Prophezeiung zum eigenen Problem. Die böse Grippe, die in Fachkreisen bald „Afrikanische Grippe“, bei uns im Volksmund sodann „Negergrippe“ und im arabischen Raum „Judengrippe“ genannt wurde, war eine plausible Erklärung für die zunehmende Unruhe auf der ganzen Welt. Es ließ sich zum einen nicht leugnen, dass es diese Krankheit gab, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine echte Grippe handelte oder nicht, und zum anderen, dass es den Kranken sehr schlecht ging. Das Krankheitsbild war jedoch so differenziert, dass viele nicht an eine einzige Krankheit glaubten oder glauben wollten, unterschiedliche Wirtstiere und Übertragungswege hin oder her. Manche Kranke zeigten klassische Symptome der Grippe und sie bekamen Fieber, Gelenkschmerzen, Übelkeit – die bekannten Erscheinungen, die die Grippe seit jeher hervorrief. Von ihnen starben – je nach Altersgruppe, Gesundheitszustand vor der Infektion, medizinischer Versorgung und vor allem je nach Datenquelle – zwischen 20 und 80 Prozent der Betroffenen innerhalb von zwei bis drei Wochen. Nach dieser Zeit war man geheilt oder eben tot. Selbst 20 Prozent ist eine verdammt hohe Sterblichkeitsrate und die Krankheit war ansteckend, wie es eine Grippe nur sein kann. Betrachtet man die Altersgruppen, so schienen nicht – wie allgemein üblich – die Älteren und die Kinder die höchste Sterblichkeit zu haben, sondern die 30- bis 50-Jährigen, deren Immunsystem eigentlich am besten funktionieren sollte, dieses sich aber leider oft in einer Autoimmunreaktion selbst ausschaltet, was für das reibungslose Funktionieren einer Gesellschaft verheerend und für die Behandlung der Krankheit mit das Schlimmste ist, was man sich vorstellen kann. Bei der bereits erwähnten Spanischen Grippe vor einem Jahrhundert soll es gleichermaßen abgelaufen sein. Die Krankheit traf besonders viele Ärzte und Krankenschwestern, damals wie heute. Aber das war nicht das Schlimmste: Die atypischen Symptome wie Reizbarkeit, Aggressivität, Depressionen waren gesellschaftlich viel folgenreicher. Die Unsicherheit, ob es sich um eine einzige Krankheit oder doch um mehrere handelte, tat ihr Übriges. Unsicherheit ruft Angst hervor, Angst schürt Panik, Panik erzeugt Unsicherheit bei den noch nicht Betroffenen. In einer solchen Situation schreibt uns – wie gleichermaßen allen Tieren – unser Instinkt eine einfache Alternative vor: zu fliehen oder zu kämpfen. Also nichts wie weg! Aber wohin? Also kämpfen! Aber gegen wen?
Ich studiere weiter die Symptome, es ist verwirrend: akute Ateminsuffizienz, Enzephalitis, Meningitis, innere Blutungen, Pneumonie, Husten, Muskelkrämpfe, Muskelschmerzen, Schwindelgefühl, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Diarrhö, hohes Fieber, Depressionen.xiii Akute Zyanose, Bluterbrechen und -expektoration, extremes Nasenbluten, bei Frauen zudem Blutungen aus den Genitalien, Sterben des Fötus bei Schwangerschaften.xiv Akutes Atmungsstress-Syndrom als Folge eines „Zytokin-Sturms“, bei dem die Zellen der Lunge im Kampf der Immunabwehr gegen die Pathogene derart geschädigt werden, dass es zu Atemversagen kommt. Der Tod tritt durch Ersticken ein.xv Man versucht, Impfungen auf der Grundlage von sterilen Eiern herzustellen und anschließend aus diesen den Impfstoff zu ernten. Leider tötet der neue Erreger die Eier ab, was die Herstellung eines Impfstoffes sehr erschwert.xvi Truppenbewegungen, die den Regierungen wegen der Unruhen, die die Negergrippe (in der USA mittlerweile „sinner’s flu“ genannt) verursacht hatte, unumgänglich erschienen, verbreiteten die Krankheit zusätzlich. Die staatlichen und supranationalen Institutionen, die die Folgen der Verbreitung der Negergrippe (in Zentralafrika als „le rhume blanche“ bezeichnet) eindämmen sollten, verbreiteten die Ursache der Folgen, die sie zu bekämpfen gehalten waren. In Afrika ist ein Drittel der Sicherheitskräfte, Militärs und Polizei HIV-positiv, was sie demzufolge leider sehr anfällig für die Negergrippe (in Russland auch als „Tschornaja Gripp“ bzw. „Amerikanskaja Gripp“ bekannt) und ihre Folgen macht.xvii Zudem ist anzunehmen, dass es „Superverbreiter“ gibt, allerdings sind diese Individuen nicht leicht auszumachen. Einige hat man in katholischen Kirchen vermutet, wo sie durch kanonischen Gebrauch des Weihwasserbeckens zunächst sich selbst und dann viele andere angesteckt haben; ähnliches ist in Israel durch die Mesusas geschehen, in Mekka durch Überfüllung und natürlich auch am Ganges. Es ist schon in Ordnung, wenn gläubige Menschen in Angst sich in Gotteshäusern versammeln, wären sie bloß dort geblieben! Leider hatten diese infizierten Menschen nach dem Verlassen der sogenannten Gotteshäuser noch Kontakt zu anderen Menschen, das erwies sich als ungeschickt und unglücklich. Wie hätte man das verhindern sollen? Wer wäre dafür zuständig? Genauso gut könnte man das Kinderkriegen verbieten. Es herrscht ja Religionsfreiheit, was leider nicht dasselbe ist, wie Freiheit von der Religion. Allein das Kompetenzwirrwarr in Volksgesundheitsfragen in den USA ist bezeichnend für die Schwierigkeiten, die die Regierungen hatten, mit der Seuche umzugehen: An erster Stelle war das US CDC zuständig, das „Center for Disease Control and Prevention“ in Atlanta. Des Weiteren gab es die „National Institutes of Health“, im Plural. Um Impfungen, Medikamente und deren Zulassung wiederum kümmerte sich die „Food and Drugs Administration“, die FDA. Zu guter Letzt kam das „Department of Health and Human Services“, zuständig für die Koordinierung verschiedener Agenturen auf Ebene der Staaten. Krankenversicherungen und private Krankenhäuser kochten ihr eigenes Süppchen.xviii Die Patienten, am Rande der Panik, verhielten sich nicht kooperativ, das machte die Lage nicht beherrschbarer oder angenehmer. Die Sicherheitskräfte, die ihrerseits dem State Department, dem Pentagon, der NSA, der CIA und direkt dem Präsidenten unterworfen waren, waren sehr nervös. Die Situation in China beispielsweise war noch schlimmer und verworrener. Mir schwirrte der Kopf. Ich werde genauer nachforschen müssen, um durchzublicken, falls das für jemanden in meiner Lage möglich sein sollte.
Oder es handelte sich doch um mehrere Krankheiten. Oder sie entstammten aus einem militärischen Labor. Oder es waren fremde Keime, die von Apophis auf die Erde niederrieselten. Das wäre eine neue Theorie der Panspermie: Die Erde wurde nicht vom All aus mit Leben „infiziert“, sondern mit der Krankheit „geimpft“, die den Planeten vom Menschen befreien sollte. Oder Gaia war doch wahr, und die Erde entledigte sich Unser ganz ohne Apophis’ Zutun. „Wozu Gaia?“, riefen andere, es war schlicht und einfach Gott! Armageddon! Das Ende der Zeit, das Jüngste Gericht, die Apokalypse, die Rache Gottes oder der gerechten Selbstgerechten! Mir scheint, des Menschen Einfallsreichtum entfaltet sich aufs Vorzüglichste beim Spinnen von Verschwörungstheorien und beim Anfeinden der Andersartigen. Vieles davon bleibt stereotyp: die Juden, natürlich, wieder einmal, ganz ohne zwischen den Orthodoxen, den Reformjuden, den Chassiden, den Karäern und Samaritanern oder gar der Kabbala zu unterscheiden. Wozu auch, Antisemiten denken schlicht. Die Freimaurer, die hätte ich beinahe vergessen. Die Jesuiten, besonders beliebt unter jenen Anglikanern, die immer noch die Spanische Inquisition hinter jedem Busch erwarten, die Illuminaten, die Muslime (Schiiten – Imamiten, Zaiditen, Ismailiten, Nizaris…- Sunniten – Schafiiten, Hanbaliten, Salafiyya, Wahabiten, Malikiten, Hanafiten…- Kharidjiten, Ibaditen und Mozabiten, Aleviten, Alawiten oder Nusairier, Drusen, Sufis, Maroniten, Imamiten und einige Sekten dazu), die Jesiden, die Mormonen, die Christen (die Katholiken, die Protestanten, die Baptisten, die Täufer – das ist nicht dasselbe, man glaubt es kaum –, die Mennoniten und die Hutterer, die Orthodoxen, die Kopten, die Quäker, die Chaldäische Kirche, die Pietisten, die Flagellanten, die ebenfalls wieder aufkamen, nicht zu verwechseln mit den Geißlern, die Jesuiten hatten wir schon, ebenso die Anglikaner, die Calvinisten, die Puritaner, die Adventisten, die Assyrische Kirche des Ostens, auch Apostolische Kirche des Ostens genannt, die Bruderbewegung, die Pfingstbewegung, die Heiligen der Vorletzten Tage, die Heiligen der Letzten Tage, die Heiligen der Allerletzten Tage, die Amish, die Shaker – es gab sie noch, vier Menschen insgesamt, sie wohnten alle in Maine, USA, und waren untereinander zu allem Überfluss zerstritten –, die Duchoborzen, die Chlysten und die Molokaner aus Russland, die Unitarier, die Zeugen Jehovas, die ganz besonders lustigen Raëlianer bzw. Raëlisten, die Semi-Pelagianer, die Waldenser, die Hussiten, die Maroniten, die Griechisch-Orthodoxe Kirche, die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Syrisch-Katholische Kirche, die Armenisch-Orthodoxe Kirche, die Armenisch-Katholische Kirche, die Utraquisten…), die Kimbanguistenkirche (offizielle Bezeichnung: Église de Jesus Christ sur Terre par le Prophète Simon Kimbangu, eine Kirche, bei ich meine Schwierigkeiten bei der Einordnung habe, sagen wir der Einfachheit halber, es handelt sich dabei um ein afrikanisches Plagiat des Christentums), die Hindus, die Jainisten und die Jainiten, die Sikhs, die Brahmanen, die Manichäer und überhaupt: Alles Ketzer! Am schlimmsten sind die Atheisten! Die östlichen Religionen! Der Shintōismus! Nein, das sind keine Religionen, das sind Sekten! Alles Relativisten miteinander! Die Polytheisten! Die Animisten! Die Schamanisten! Die Paganen und die Neopaganen! Die Scientologen, die Wissenschaftologen, die Pseudo-Wissenschaftologen, die Aberglaubologen, die Gerüchtologen! Die Anhänger der Wicca und die des feministischen Kults der großen Göttin! Die Anthroposophen, die Theosophen, die Spiritisten! Die Moonies, die Loonies und die Lunatics! Man konnte sich da ganz schön hineinsteigern… Die Aufzählung könnte lange so weitergehen, allein in Japan gab es über dreihunderttausend eingetragene Religionsgemeinschaften und in den USA und Kanada wurden seit dem 19. Jahrhundert mindestens allein siebenunddreißig Kirchen anerkannt, die psychoaktive Sakramente (sprich: Drogen!) als wesentlichen Teil der Liturgie einsetzten;xix die brauchten nicht viel, um völlig durchzudrehen: tribal business weltweit – nur über die Buddhisten las ich und hörte ich inmitten dieser Kakophonie nichts, mit Ausnahme der Machenschaften des Shaolin Klosters und des dem Kloster angeschlossenen Themenparks. Merkwürdig! Vielleicht lag es daran, dass der Buddhismus keine Religion war, sondern eine Philosophie. Abgeschlachtet wurden aber auch die Buddhisten. Wenigstens schienen die Buddhisten noch den Anstand zu haben, an dem Gemetzel nicht selbst aktiv teilzunehmen, obwohl sich einige selbst verbrannten, was ebenfalls nicht vernünftig ist. Das verdeutlichte ihre verzweifelte Form des Protestes.
Ach, die Religionen! Die religiösen Menschen! Wenn sie sich schon unbedingt auf Gott berufen wollen, meinetwegen, sollen sie nur, aber ich kann nicht anders; ich muss daran denken, dass ich, wäre ich an ihrer Stelle, wenn ich auch an so einen Quatsch glauben würde, enttäuscht wäre: Ich würde mehr von ihm (sie schreiben „ihm“ sicher in Großbuchstaben, nun: ich nicht!) erwarten, ja, sogar fordern. Gott ist den Darstellungen der verschiedenen Offenbarungen zufolge ein unsympathischer Rechthaber, einzig seine Anhänger sind zumeist noch schlimmer als er. Was vermutlich daran liegt, dass seine Anhänger ihn (kleingeschrieben!) nach ihrem eigenen Bild erschaffen haben, obwohl sie es in ihren heiligen Büchern gern andersherum erzählen. Wenn ich nicht so faul wäre, würde ich eine eigene Religion gründen. Aber ich schaue mich um, sehe meine potenziellen Jünger an und mir fallen keine Dogmen ein. Ich halte mich aus dieser letzten Schlacht der Ökumene, alle gemeinsam gegen alle, lieber heraus.
„Bellum omnium contra omnes“ – Krieg der Ideen, Krieg der Taten, Krieg der Worte und Krieg der Unterlassung sowieso, wie immer. Die Tyrannen kamen auf ihre Kosten: Krieg, ihr Lieblingssport, hatte Hochkonjunktur. Ich werde noch viel lernen müssen, um zu verstehen.