LX. Flucht aus Berlin

Le biologiste passe, la grenouille reste.i
Jean Rostand

Als es in Berlin brenzlig wurde (es heißt, Bismarck sagte einst, beim Ende der Welt wäre er gern in Mecklenburg-Vorpommern, denn in Mac-Pomm oder Mecklenborough, wie es bei denen hieß, die zu Gelsenkirchen Gelsenchurches sagen würden, komme jede Neuigkeit um Jahre zu spät an. Diese Rolle schien Berlin übernommen zu haben: Die Stadt, die seit einer halben Ewigkeit von sich behauptete, die Stadt der Zukunft zu sein, war dermaßen auf die Vergangenheit fixiert, dass wir Bewohner uns der Illusion hingaben, sie bliebe ewig dort verankert; wir wähnten uns in trügerischer Sicherheit. Als Ausrede könnte ich anführen, dass nach landläufiger Meinung ein Frosch, der in ein heißes Wasserbad geworfen wird, die Gefahr spürt und sofort versucht, aus dem Wasser zu springen. Wenn man hingegen einen Frosch in einen Eimer mit kaltem Wasser legt und das Wasser langsam genug erwärmt, merkt der Frosch die Veränderung angeblich erst, wenn es für ihn zu spät ist. So heißt es jedenfalls, vielleicht handelt es sich dabei um einen Mythos, ich habe es nicht ausprobiert. Vermutlich stimmt es nicht, sonst wären Frösche schon längst ausgestorben, aber als Metapher – und sei sie erfunden – passt das Bild bestens auf uns: Wir sahen alles zu spät auf uns zukommen, wir hätten besser vorbereitet sein müssen. Wir Idioten! Arme Frösche!), also, als es in Berlin brenzlig wurde, wie ich gerade ausführen wollte, flohen wir ziemlich überhastet mit der fast fertigen Hyperborea in die Sahara. Wir, das waren meine geliebte Frau, Herr Klaasen, Sven Maven und ich. Einfach die, die an Bord waren, als ich bei einem Probeflug angesichts der Tatsache, dass sich die Zustände in Berlin dramatisch zuspitzten, im allgemeinen Konsens beschloss, dass es Zeit sei, sich in eine entlegene Ecke zurückzuziehen und abzuwarten, wo das alles enden würde. Herr Augsburger und Ali sammelten gerade wieder Meteoriten in der Antarktis, die Sommersaison ging dort langsam dem dunklen Ende entgegen. Sie kamen uns nach, wir riefen sie durch einen vermeintlich sicheren internen Kanal mithilfe der Vendobionten. Nicco und Beata Nalga kamen später mit einem kleineren Luftschiff, der Kairos, hinterher, es scheint auf den ersten Blick an ein Wunder zu grenzen, dass sie uns gefunden haben. Die Erklärung lag auf der Hand: Sie waren demselben Signal gefolgt, mit dem wir Herrn Augsburger und Ali zu uns lotsten. An Bord ihres Schiffes konnten sie unsere Peilung empfangen, die Instrumente waren die gleichen. Umso besser für sie, dachten wir, als sie uns mit ihrer Anwesenheit überraschten. Falscher Fehler, sehr bedauerlich! Zunächst allerdings waren wir nur vier Besatzungsmitglieder, Nicco musste noch mit der Kairos aus Rom fliehen, Beata sich noch seiner annehmen, um schließlich zu uns, mitten in die Wüste, zu finden. Wir hatten kaum Zeit, etwas vorzubereiten, plötzlich wurde es selbst im verschlafenen Berlin ungemütlich – etwas, das ich mir früher kaum hätte vorstellen können. Das war wohl der Grund dafür, dass wir so lange gewartet und keinerlei Vorbereitungen für eine geordnete Flucht getroffen hatten. An dieser misslichen Lage waren wir selber Schuld. Denselben Fehler schienen viele Menschen weltweit begangen zu haben, das hatte die Sterblichkeit nicht verringert. Sven Maven war hin und her gerissen, er hätte gern seine Frau mitgenommen, aber er wusste nicht, wo sie war; die Lage verschlimmerte sich und wir drängten zur Eile. Der Kontakt zu seiner Frau war nicht herzustellen. Die Augen und die Vendobionten zeigten uns den Weg aus der Stadt. Zu landen schien im Stadtgebiet nicht möglich. Meine geliebte Frau bestand noch darauf, ihre Katzen und meinen Hund aus unserer Wohnung im Flughafengebäude zu retten, was uns aus der Luft mit einem fliegenden Manöver gelang. Wir konnten schlecht landen, wir wurden beim Anflug mit Steinen beworfen, vom Platz der Luftbrücke aus gesehen hinter dem Flughafengebäude fanden wir jedoch für eine Weile hinreichend Schutz. Die Steine trafen uns nicht, die Hyperborea flog über den Häusern davon, zu hoch für derlei primitiven Waffen. Feuerwaffen wurden in Tempelhof offenbar nicht eingesetzt, aber es war nur eine Frage der Zeit. Wir nahmen hastig etwas Tierfutter und einige Unterlagen mit, ich steckte außerdem zwei Whiskyflaschen, sämtliche Bierkästen aus der Betriebskantine, Proviant und Wäsche ein. Nachfolgend überflogen wir Berlin und sahen immer mehr Rauchsäulen aufsteigen. Zu diesem Zeitpunkt war es eindeutig nirgendwo im Stadtgebiet mehr möglich zu landen. Sven Maven versuchte wieder und wieder seine Frau zu kontaktieren – ohne Erfolg. Die Telefonnetze waren zusammengebrochen, die Straßen blockiert, die Menschen aggressiv. Wie konnte das sein? Warum war es so plötzlich ausgebrochen? Als wir nach mehreren Stunden – eine Zeit, die uns wie eine Ewigkeit vorkam – die Suche nach den Menschen, die der improvisierten Crew wichtig waren, aufgaben, waren alle an Bord verstört. Besonders Sven Maven stand unter Schock und wir konnten nichts unternehmen, um ihn zu trösten. Ich kam mir herzlos vor, aber uns blieb nichts anderes übrig: Wir flohen in die Sahara. Wir flogen davon, die Seele betrübt, zufrieden, dem Tode entronnen zu sein, dabei um unsere Freunde und Familien trauernd. Die Leere in unseren Herzen war bedrückend, das Gefühl würde sich mit der Zeit nur verstärken.

i „Der Biologe vergeht, der Frosch bleibt.“ Jean Rostand, „Inquiétudes d’un biologiste“, S .66, Livre de Poche n°3634. Hoffentlich hat Monsieur Rostand mit dieser Beobachtung recht. Vielen Fröschen geht es nicht besonders gut. Später mehr dazu.

 

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