XIX. Wal

Wir probieren bei jedem neuen Exemplar der Augen eine oder mehrere kleine Neuerungen aus. Mal verbessern wir das Design, mal die Steuerung, Hardware und Software. Ich hoffe, wir können bald unsere Produktion steigern. Schon haben wir sechs Augen in der Luft und bauen weiter neue hinzu. Wir fliegen sie nachts der Elbe entlang fabrikneu aufs offene Meer, steuern sie von Hochdruckgebiet zu Hochdruckgebiet, ständig über dem Meer, im internationalen Luftraum, stets mit dem Wind im Rücken, um die maximale Strecke in der minimalen Zeit zurückzulegen. Um Richtung Westen zu fliegen, versuchen wir, uns in der Nordhalbkugel im südlichen Bereich der Hochdruckgebiete zu bewegen, nach Osten steuern wir den nördlichen Bereich der Hochdruckgebiete an. In der Südhalbkugel verfahren wir umgekehrt. So nutzen wir die Eigendrehung der Erde und die dadurch erzeugte Corioliskraft, damit decken wir die größtmögliche Fläche in einer gegebenen Zeit ab. Wir steuern kein bestimmtes Ziel an, wir suchen und suchen, bis endlich:

Wir finden einen Blauwal vor Kamtschatka. Es ist Anfang Sommer in der Nordhalbkugel und da die Tage im Nordpazifik gerade sehr lang werden, haben wir eine gute Energiebilanz. Das Wetter hilft. Meidet der Blauwal schlechtes Wetter oder ist Krill dort, wo das Wasser ruhig ist, besonders üppig? Ich weiß es nicht. Wir freuen uns jedenfalls auf die Bilder, solange wir sie machen können, und stellen sie umgehend ins Netz. Noch sind die Bilder kostenlos, wir baten unsere Zuschauer lediglich um Vorschläge für weitere Bildmotive. Das mussten wir nicht ausdrücklich sagen, ein Diskussionsforum zu eröffnen, entwickelte genug Eigendynamik. Die Leute reden gern, wenn man sie nach ihrer Meinung fragt, da fühlen sie sich wichtig. Manche haben an allem etwas auszusetzen, andere wollen zeigen, wie schlau sie sind. Derlei Beiträge und das gezielte Bekanntgeben von Informationen an ausgewählte Personen, worum sich inzwischen Beata Maloumie kümmerte, gaben uns viele Anregungen, manche von ihnen durchaus brauchbar. Frau Maloumie besaß eine Begabung für dickes Auftragen, damit hatten wir eine passende Stelle für sie gefunden. Medienbeauftragte und Pressesprecherin klingt diesbezüglich viel besser als Sekretärin, keine Frage. Um die Informatik kümmerte sich wieder allein meine geliebte Frau. Gott sei Dank, dachte ich im Stillen, obwohl ich Atheist bin. Ist ja nur eine Redewendung.

Der Wal ist leichter zu verfolgen, als ich befürchtet hatte. Das Tier ist so kurzsichtig, es bemerkt uns nicht, es schaut gar nicht in den Himmel. Der Wal versucht demnach auch nicht zu flüchten, wozu er keinen Grund hat, und füttert gemütlich vor sich hin. Er schwimmt langsamer, als ich dachte. Es ist ein majestätisches Tier in einer großartigen Umgebung: Das Meer schäumt hier und da, in der Ferne kann man die Berge und Vulkane Kamtschatkas erahnen, weit und breit keine Schiffe. Das Auge wird in vier Schichten gesteuert – Sven Maven, Nicco, meine geliebte Frau und ich lernen das Steuern des Schiffleins durch Ausprobieren und erzählen uns in den jeweiligen Pausen gegenseitig unsere Erlebnisse und welche Tricks wir zum Steuern erarbeitet haben. Jetzt fliegen wir das eine Auge nicht mehr auf der Suche nach einem Wal, sondern wir wollen diesem Wal aus der Nähe folgen. Das stellt eine ganz andere Aufgabe dar. Die anderen Augen, fünf sind es inzwischen schon, fliegen wir gleichzeitig ebenfalls und hoffen auf weitere Wale oder etwas anderes Interessantes zu stoßen. Somit gewinnen die Steuerungsrechner mehr und mehr Erfahrungswerte und helfen uns immer effektiver beim Navigieren und Steuern. Ich hoffe, bald werden wir nur die Zielkoordinaten eingeben müssen und die Rechner übernehmen die Routenplanung und die Navigation.

„Sollen wir die anderen Augen auch zum Wal fliegen oder suchen wir lieber nach anderen Walen? Was meint ihr?“ Ich schaute Nicco Gassi, Sven Maven und meine geliebte Frau fragend an.

„Warum suchen wir nicht etwas anderes?“, antwortete Nicco. „Immer nur Wale ist auf Dauer langweilig.“

„Was sollen wir über Wasser im offenen Meer anderes Interessantes suchen? Über Land bekommen wir Probleme. Herr Augsburger studiert die internationale Gesetzgebung und verhandelt mit einigen Ländern, aber das kann noch ewig dauern“, entgegnete meine geliebte Frau.

„Und um über Land zu fliegen, ist mein Vertrauen in die Steuerung noch nicht groß genug; wir sind nicht versichert. Auf hoher See gibt es keine Berge und keine Häuser, mit denen wir zusammenstoßen könnten. Wenn wir über Wasser bleiben, müssen wir uns um die Flughöhe keine Gedanken machen. Ein Problem weniger“, ergänzte ich.

„Wir könnten in der Karibik Jachten mit nackten Frauen an Deck suchen!“, feixte Nicco.

„Ach Mensch, Nicco, spiel’ nicht immer den feurigen Italiener, wir wissen doch, dass Du ein schwuler Latin Lover bist!“, entgegnete Sven Maven und er wusste, dass er Nicco damit auf die Palme bringen würde.

„Ich, schwul?“

Die Diskussion würde heute nirgendwo mehr hinführen, aber die Frage nach dem passenden Ziel war gestellt. Vielleicht fällt jemandem im Schlaf etwas ein. In der Zwischenzeit würden wir nach und nach weitere Augen bauen und aufs offene Meer schicken. Nicco hatte allerdings in einem Punkt recht, wir können nicht ewig nur Wale verfolgen, wir brauchen andere Ziele. Notfalls werden uns die Kunden diese Ziele vorgeben müssen, schließlich wollen wir, dass sie das Unternehmen finanzieren, da kann es nicht falsch sein, auf ihre Wünsche zu hören. Die Beteiligung der Kunden an der Zielauswahl musste meine geliebte Frau noch programmieren und Beata den zukünftigen Kunden selbst noch vermitteln. Den Kunden im Internetforum planlos Wünsche äußern zu lassen, würde allein keine ausreichende Entscheidungshilfe bieten. Wir würden unter den zukünftigen Abonnenten eine Art Abstimmung durchführen müssen.

Noch war es aber nicht so weit.

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