LXX. Ein Geisternetz

Wir ziehen im Pazifik ein im Wasser treibendes Geisternetz teilweise an Bord hoch. Das macht weniger Spaß. Ganz aus dem Wasser hieven können wir es nicht, es ist viel zu lang und schwer. Das Netz ist mit Algen bewachsen und mit Muscheln, Schwämmen und an einigen Stellen sogar mit etwas, das wie Korallen aussieht, überdeckt. Viele der darin verfangenen Fische sind seit langen tot, niemand hat sie an sich genommen und sie sind verrottet. Das zieht andere Fische an. Die kleinen überleben, sie schlüpfen durch die Maschen. Die großen bleiben im Netz hängen, verheddern sich und verenden. Das Geisternetz ist eine veritable Todesfalle für große Tiere und in der Tiefe eine schwimmende Nahrungswand für kleinere Lebewesen und die, die daran festwachsen. Wir nehmen die Fische, die noch zappeln, in der Hoffnung, uns keine Fischvergiftung zu holen, mit an Bord und frieren an einem Nachmittag beinahe eine halbe Tonne ein, was uns einen beachtlichen Teil unserer Flüssigluftvorräte kostet.

Das Geisternetz ist viele Kilometer lang. Beata wollte es beschweren, um es zu versenken, aber da es länger ist als das Meer an dieser Stelle tief, kann man es nicht in einem Stück versenken, man müsste es alle paar Kilometer erneut beschweren. So viel entbehrlichen Ballast haben wir nicht. Nicco plädiert dafür, es an die Küste zu schleppen. Auch das geht nicht, das Netz muss Hunderte von Tonnen wiegen, mehr als alle unsere Motoren schleppen können; die Hyperborea wird beim Schleppversuch instabil und an die Meeresoberfläche gezogen. Zu guter Letzt schneiden wir es in mehrere Stücke, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob wir damit die Lage nicht verschlimmern. Sind mehrere kurze Geisternetze besser als ein langes? Versinken wenigstens einige der kurzen Teilstücke somit schneller, wenn sie nur mit genügend toten Fischen überfrachtet sind, oder stranden sie eher und werden zur Falle in der Nähe der Küste, wo das Artenreichtum und die Biodichte größer sind als im offenen Meer? Ich weiß es nicht. Nach zwei Tagen schwerer Manöver, während derer wir versucht haben, mit einem Flaschenzug Teile der Netze an Bord zu hieven, um das Netz zu schneiden, gebe ich es auf. Das Unterfangen gestaltet sich als viel zu schwierig. Zudem ist es wohl nicht sehr sinnvoll. Das Deck stinkt nach den vielen verfaulten Fischen, Muscheln, Seesternen und sonstigem Krabbelgetier, das mit den Netzen an Bord kam, aber darüber hinaus sammelten sich dort viele lebendige Fische an. Dadurch ist unser Lager wenigstens wieder mit Fischproteinen gut bestückt. Wir selber stinken auch.

Bis zuletzt sollten wir immer wieder kilometerlange Netze im Meer treiben sehen – schwimmende Fallen, in denen nicht nur Fische, sondern ebenfalls Meeressäuger und Vögel verendeten. Ich hoffe, dass wenn genug Wale darin gefangen sind und von diesen nach dem Verrotten ihrer Körper nur noch die schweren Knochen in den Maschen übrig bleiben, die Netze eventuell doch noch sinken. Oder sie sinken aufgrund des Gewichtes der an ihnen langsam wachsenden Korallen. Irgendwann. Ich fürchte allerdings, so viele Wale gibt es nicht mehr, und die Korallen hören ab einer bestimmten Tiefe mangels Licht auf zu wachsen. Wenn sie die Netze nur einige Meter herunterdrücken, bleiben sie schwebend an der Stelle und töten dort in halber Tiefe die Meeresbewohner. Aber was geht mich das an? Vielleicht werden die mit Algen und Korallen bewachsenen Netze auch unter Wasser für Fische und Wale wahrnehmbar und das Sterben hat ein Ende. Und wenn nicht jetzt bald, dann eben in 1.000 Jahren. Darauf wird es wohl nicht mehr ankommen.

 

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