LI. Verdolmetschung

Es möchte kein Hund so länger leben!
Drum hab ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund,
Dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß,
Zu dolmetschen sagen brauche, was ich nicht weiß

Johann Wolfgang Von Goethe
Faust, Der Tragödie erster Teil, Akt 1., Szene 1

Die Verdolmetschung politischer Ereignisse, wie die regelmäßigen Treffen der G23 wurde zunehmend schwieriger, je mehr Länder an diesen Beratungen teilnahmen, weil immer mehr Sprachen gebraucht wurden und die Anzahl der Sprachkombinationen exponentiell im Verhältnis zur Anzahl der zu dolmetschenden Sprachen wächst. Es ist in diplomatischen Kreisen Usus, dass Staats- und Regierungschefs sich in ihrer jeweiligen Landessprache ausdrücken dürfen, was sehr demokratisch ist. So haben alle Teilnehmer die gleichen Chancen, sich adäquat auszudrücken. Leider gibt es keinen Dolmetscher auf der ganzen Welt, der alle dreizehn Amtssprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Japanisch, Italienisch, Chinesisch, Farsi, Spanisch, Portugiesisch, Malaiisch, Arabisch und Koreanisch – Gott sei Dank beharrten die Inder nicht auf einer ihrer vielen Hunderten von Sprachen und die Südafrikaner nicht auf Afrikaans, sie begnügten sich mit Englisch und die Kasachen mit Russisch!) des Gipfels beherrscht, deshalb müssen Dolmetscher auf zwei Hilfsmittel zurückgreifen, die man in der Fachsprache als „Retour“ und „Relais“ bezeichnet (damit keine Verwechslungen aufkommen sei gleich gesagt, dass dieses „Relais“ nichts mit der technischen Funktion der Vendobionten gemein hatte). In der Regel dolmetschen Profis auf hohem Niveau aus den Sprachen, die sie verstehen, ihren Arbeitssprachen, in ihre Muttersprache. Ein Retour wird ausgeübt, wenn ein Dolmetscher aus seiner Muttersprache in eine andere Sprache, die er sehr gut beherrscht, zurückübersetzt. Heutzutage ist diese Retoursprache meist Englisch, vor vielen Jahren war es für gewöhnlich Französisch, im abgeschiedenen Bereich der ehemaligen Sowjetunion war die Retoursprache natürlich Russisch. Wenn keiner der Dolmetscher in einer Sprachkabine, die bei derart vielen Sprachen mindestens zu dritt besetzt ist, die Sprache versteht, die gerade gesprochen wird, dann geht man „auf Relais“, d. h., man dolmetscht nicht das Original, was natürlich, sofern machbar, immer vorzuziehen ist, sondern aus einer anderen Verdolmetschung, zumeist aus dem Englischen – eben der Sprache, in der die meisten Retours angeboten werden. So kann es passieren, dass man ein Retour als Relais benutzt, zum Beispiel dann, wenn der indonesische Regierungschef Malaiisch spricht und in der deutschen Kabine niemand diese Sprache versteht. Sollte in diesem Fall in der englischen Kabine, die der Dolmetscher aus der deutschen Kabine als Relais benutzen will, ebenfalls niemand Malaiisch beherrschen, kann es passieren, dass der deutsche Dolmetscher den indonesischen Dolmetscher, der einen Retour ins Englische macht, als Relais nehmen muss. Das ist weiter kein Problem und leicht zu verstehen (außer, man ist eine Agentur für Konferenzorganisation, deren Chefinnen kommen mit diesem sprachlichen Hin und Her oft durcheinander und werden im unpassendsten Moment panisch, hysterisch und ausfallend). Nur Relais von einem Relais zu nehmen, das sogenannte „Doppelrelais“, ist unter professionellen Dolmetschern verpönt.

Eigentlich würde es theoretisch reichen, wenn alle Sprachkabinen nur aus dem Englischen in ihre Sprache dolmetschen würden und dazu ein Retour anböten. Auf diese Art und Weise war das alte sowjetische System organisiert, bei dem natürlich die damals sogenannte „Leitkabine“ nicht die englische, sondern die russische war. Hierbei gehen die Dolmetscher bei jeder Sprache – außer der Leitsprache – automatisch auf Relais von der Leitsprache und dolmetschen daraus in ihre eigene Sprache. Wenn dann ihre Sprache gesprochen wird, bieten sie wiederum einen Retour in die Leitsprache an, wovon die anderen Kabinen Relais nehmen.

Beim G23 teilen sich die dreizehn Sprachkabinen in zwei Gruppen auf: Die Europäer (zuständig für die Sprachen Englisch, Deutsch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Russisch) versuchen mit der Begründung, sie seien in der EU oder ihrer Nachfolgeorganisation, der Nordwestlichen Union, ausgebildet worden und würden dort am häufigsten arbeiten, möglichst selten auf Relais zu gehen, weil selbiges in der ehemaligen EU und heutigen NWU verpönt war. Von einer Leitkabine wollen sie gar nichts hören, besonders die englischen Dolmetscher nicht, denn in dem Falle wären sie arbeitslos, da die anderen Kabinen mit Retour ihre Arbeit übernehmen würden. Bei den asiatischen Sprachen müssen die Europäer aber auf Relais gehen, weil sie diese nicht verstehen. Dabei hat die englische Kabine eine Sonderstellung: Sie geht nicht auf Relais, sie lässt Retour machen und dreht dann Däumchen. Die anderen Kabinen, dazu gehören die vier asiatischen Kabinen, die arabische Kabine und die Farsi Kabine, machen einen Retour und nehmen prinzipiell Relais aus der englischen Kabine, wenn etwas anderes als Englisch gesprochen wird. Man kann folglich sagen, dass für einen Teil der Dolmetscher beim G23 das Leitkabinensystem angewandt wurde, für den anderen, den europäischen Teil, nicht. Und Russisch befand sich irgendwo dazwischen, so gerne sich die Russen als Ur- bis Megaeuropäisch gesehen hätten.

Übrigens, um auf das oben erwähnte Beispiel zurückzukommen: Wenn jemand in der englischen Kabine Malaiisch versteht und diese Sprache ohne Retour direkt dolmetscht, ist es natürlich erst recht kein Problem für die anderen Kabinen, die Englisch als Relais benutzen müssen. Englisch verstehen sie so oder so und wenn der Akzent muttersprachlich ist, na, umso besser! Das kapiert selbst die dümmste Chefin einer Konferenzorganisationsagentur, manchmal jedenfalls, wenn man es ihr langsam und geduldig erklärt.

Beide Gruppen, die europäischen Dolmetscher und „die anderen“, wie diese von den Europäern genannt werden, hegen eine herzliche Abneigung gegeneinander. Die Europäer meinen, „die anderen“ seien keine richtigen Konferenzdolmetscher, da sie ausschließlich zwei Sprachen beherrschten und eine davon, Englisch, nicht ganz akzentfrei. „Die anderen“ meinen, die Europäer seien eine Bande arroganter, eingebildeter Neo-Imperialisten, die wohl am liebsten die Dolmetscher aus dem nicht europäischen Ausland von wichtigen Konferenzen ausschließen möchte, und es sei ohnehin vermessen zu behaupten, man beherrsche vier, fünf oder gar noch mehr Sprachen, wohingegen diese Schnösel oft selbst ihre eigene Muttersprache zu verhunzen in der Lage waren. Beide Sichtweisen haben eine gewisse Berechtigung.

Diese Animosität kommt vermutlich daher, dass Dolmetscher in ihrer Freizeit selten ehrlich miteinander reden. Reden ist für sie Arbeit, dafür wollen sie Geld. Lieber als untereinander reden sie, wenn es schon sein muss, mit ihren Kunden und Auftraggebern, das ist lukrativer und sie kommen sich dabei wichtig vor. Das gilt sowohl für die Europäer als auch für „die anderen“. Als wir mit dem Dolmetschgeschäft anfingen, wussten wir nicht, dass das Schwerste dabei der Umgang mit den Dolmetschern sein würde. Es war unfassbar, wie selbstzentriert jemand sein konnte, dessen Arbeit im Vermitteln und Brücken-Bauen bestand.

Wie dem auch sei: Früher reiste der gesamte Tross der Dolmetscher bei diesen hochrangigen politischen Veranstaltungen mit den Teilnehmern, seit Jahren wird jedoch einzig aus der Ferne gedolmetscht. Das hängt mit vielen Faktoren zusammen, vor allem Kosten spielen hier eine große Rolle (dreizehn Sprachen mal mindestens drei Dolmetscher pro Schicht mal zwei oder drei Schichten und einem Reserveteam für bilaterale Gespräche stellen beträchtliche Reise- und Hotelkosten dar), des Weiteren werden aber auch Platzgründe angeführt, denn diese Treffen finden oft in kleinen schmucken Sälen statt, in denen die mobilen Dolmetscherkabinen entweder nicht aufgestellt werden können oder die Ästhetik ruinieren oder beides. Sicherheitsfragen spielen ebenso eine Rolle, man sollte die Paranoia der Geheimdienstler und der Wichtigtuer respektieren. Die Dolmetscher sitzen demzufolge seit Jahren bequem in ihrer jeweiligen Heimatstadt in schönen, geräumigen, fest installierten und gut schallisolierten Kabinen, sehen dort die Veranstaltung, die sie dolmetschen, auf großen, hochauflösenden Monitoren und sparen sich somit die Reiserei, den Jetlag, die Sicherheitskontrollen und den Valutatausch. Auf der anderen Seite sehen sie die fernen Länder nur noch, wenn sie privat hinreisen, müssen schon mal mitten in der Nacht arbeiten (was auch eine Form von Jetlag auslösen kann) und sehen die Dolmetscher, die sie als Relais brauchen, nicht persönlich, denn oft sitzt das entsprechende Team am anderen Ende der Welt: die Chinesen in China, die Japaner in Japan, die Spanier in Mexiko, Chile oder selbst in Spanien usw… Damit kann man als Dolmetscher leben. Besonders zu einer Zeit, in der eine virulente, potenziell tödliche, offenkundig hochansteckende Krankheit weltweit wütet. Viele Dolmetscher können die Dolmetscher, auf die sie als Relais angewiesen sind, ohnehin nicht ausstehen. Sie bezeichnen sich gegenseitig trotzdem als „Kollegen“. Dabei muss man doch das Evidente nicht betonen, denn wenn man es betont, verliert es an Glaubwürdigkeit.

 

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